Zwischen 1985 und 1989 produzierte der ORF dreizehn vollwertige Tatort-Folgen außerhalb der ARD-Gemeinschaftsproduktion. Diese Krimis wurden nur in Österreich gezeigt und tauchen in keiner offiziellen Tatort-Statistik auf. Für Fans sind sie der „Heilige Gral“ – seltene Schätze, die offiziell nie existiert haben.

Vom Glücksfall zum Mysterium

ORF-Redakteur Ernst Petz hatte plötzlich mehr Budget als gewöhnlich. Statt die Mittel verfallen zu lassen, produzierte er eigenständige Tatort-Folgen – völlig unabhängig von der ARD. „Petz konnte sich aussuchen, welche Krimis auch in Deutschland gezeigt werden sollten“, erklärt er Francois Werner von Tatort-Fundus. Die anderen blieben österreichische Eigenproduktionen.

Was als pragmatische Entscheidung begann, wurde zu einem Fernsehmythos. Diese 13 Folgen sind heute begehrter als jede reguläre Episode – gerade weil sie so schwer zu finden sind.

Echte Tatorte mit einem Unterschied

Die ORF-Eigenproduktionen waren vollwertige Tatorte: Doldinger-Fanfare, bekannter Vorspann, gewohnte Wiener Ermittlerteams. Oberinspektor Hirth (Kurt Jaggberg), Inspektor Pfeifer (Bruno Dallansky) und Inspektor Fichtl (Michael Janisch) führten durch komplexe Fälle im Wien der 1980er.

Nur ein Detail fehlte: der Hinweis auf die ARD-Gemeinschaftsproduktion und das Fadenkreuz am Ende. Stattdessen lief der Abspann über das letzte Bild. Mit dem zusätzlichen Budget entstanden aufwendigere Produktionen mit Drehorten bis nach New York und Venedig.

Wien der Achtziger: Authentische Schauplätze

Die 13 Folgen bieten einzigartige Einblicke ins Wien der 1980er: Rotlichtmilieu, Tanzschulen, illegale Glücksspiele. Die Geschichten sind vielschichtiger als gewöhnlich: In „Des Glückes Rohstoff“ plant ein verschuldeter Graphiker einen Banküberfall. „Die Spieler“ zeigt zwei Weinbauern, deren Freundschaft durch Neid vergiftet wird. „Der Schnee vom vergangenen Jahr“ lässt einen Journalisten statt der Polizei ermitteln.

Literarische Bezüge wie in „Strindbergs Früchte“ gaben den österreichischen Produktionen kulturelle Tiefe, die über Standard-Krimis hinausging.

Von Geheimagenten bis zum Prater

Die Bandbreite war beeindruckend: „Das Archiv“ führte in die Geheimdienstwelt der Nachkriegszeit, „Atahualpa“ in die Wiener Kokainszene. „Superzwölfer“ spielte im Prater zwischen Karussells und Geisterbahnen, „Flucht in den Tod“ erzählte von Betrügern mit frisierten Autowracks.

Ohne deutschen Quotendruck konnten die Österreicher wagmutigere Geschichten erzählen.

Ein Staatsgeheimnis des Fernsehens

Heute gleicht ihre Existenz einem Staatsgeheimnis. Die ARD kennt die Folgen, erwähnt sie aber nie in offiziellen Publikationen. Bei Jubiläen erscheinen Broschüren mit Folgenlisten – die 13 ORF-Produktionen fehlen stets.

Absurder noch: Als Tatort-Fundus beim ORF nach Besetzungslisten fragte, wurden diese als „bereits vernichtet“ bezeichnet. Die Senderechte sind abgelaufen, Wiederholungen gelten als ausgeschlossen.

Legendäre Ermittler in seltenen Fällen

Kurt Jaggberg war als Oberinspektor Hirth in neun der 13 Folgen zu sehen, Bruno Dallansky ermittelte als Pfeifer in sechs Fällen. Michael Janisch etablierte sich in „Geld für den Griechen“ als Fichtl. Miguel Herz-Kestranek hatte als ermittelnder Journalist seinen einzigen Auftritt – ein einmaliges Tatort-Experiment.

Diese Schauspieler konnten ihren Charakteren mehr Tiefe geben, da standardisierte Erwartungen wegfielen.

Der Heilige Gral für Sammler

Diese 13 Folgen sind die seltensten Tatorte überhaupt. Der teure ORF-Mitschnittsdienst ist versiegt, in Fankreisen werden schlechte Kopien getauscht. Einige liefen sporadisch in Dritten Programmen: „Geld für den Griechen“ 1991 einmalig im Hessischen Rundfunk.

Gerade ihre Unzugänglichkeit verleiht ihnen mythischen Status – echte Fernsehraritäten, die nur wenige je gesehen haben.

Hoffnung auf Wiederentdeckung

2015 zeigte der ORF überraschend „Strindbergs Früchte“ – das erste Lebenszeichen nach Jahrzehnten. Streaming-Dienste könnten diese Lücke füllen, wenn Rechtsfragen geklärt würden.

Bis dahin bleiben sie die geheimnisvollsten Folgen der deutschen Kriminalgeschichte: 13 Filme, die offiziell nie existiert haben, aber in Fanherzen weiterleben. Der Beweis, dass manchmal das Verlorene wertvoller ist als das Gefundene.

*Die 13 verschollenen ORF-Tatorte: Fahrerflucht, Des Glückes Rohstoff, Strindbergs Früchte, Das Archiv, Die Spieler, Alleingang, Der Schnee vom vergangenen Jahr, Der Tod des Tänzers, Die offene Rechnung, Superzwölfer, Atahualpa, Flucht in den Tod, Geld für den Griechen.*