Kurz und knapp – darum geht’s

Im Wartesaal des Bremer Hauptbahnhofs kreuzen sich die Wege von vier Männern: Handelsvertreter Friedhelm Sacher, der seine Tageseinnahmen von mehreren tausend Mark bei sich trägt, trifft auf den arbeitssuchenden Michael Puczek, den Seemann Kurt Westhoff und den Aushilfskellner Wolfgang Henning. Nach einem feuchtfröhlichen Abend voller Lokalrunden wird Sacher am nächsten Morgen tot am Ufer eines Sees gefunden – beraubt und ohne jegliche Papiere. Für Hauptkommissar Böck beginnt eine zermürbende Ermittlungsarbeit ohne heiße Spur und mit nur spärlichen Zeugenaussagen. Als er die drei Männer schließlich aufspürt, verstricken sie sich in gegenseitige Beschuldigungen, und Böck ahnt noch nicht, wie schwierig die Wahrheitsfindung in diesem scheinbar gewöhnlichen Mordfall werden wird… Wie alles ausgeht, zeigt Radio Bremen am 4. Februar 1973 um 20:15 Uhr im Ersten.

Inhalt der Tatort-Folge „Ein ganz gewöhnlicher Mord“

Über das nächtliche Bremen ziehen dunkle Wolken, als Friedhelm Sacher, ein Handelsvertreter für Damenoberbekleidung, rastlos durch den Wartesaal des Hauptbahnhofs streift. Die Einsamkeit des Hotelzimmers nach einem erfolgreichen Geschäftstag vor Augen, sucht er nach Gesellschaft. Seine prall gefüllte Brieftasche – die Tageseinnahmen konnte er nicht mehr zur Bank bringen – steckt in seiner Jackentasche. „Ein Glaserl in Ehren kann niemand verwehren“, scherzt er leutselig, als er auf drei Männer trifft, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

In der schummrigen Bahnhofsgaststätte, wo Zigarettenrauch träge unter den flackernden Neonröhren hängt, kommen sie ins Gespräch: Michael Puczek, ein hagerer Mann mit nervösem Blick, der beim Aufbau des Freimarkts Arbeit sucht; Kurt Westhoff, ein wettergegerbter Seemann, der gerade abgemustert wurde und seine letzte Heuer in der Tasche hat; und Wolfgang Henning, ein junger Aushilfskellner, der nur zufällig in Bremen ist. Sie wirken allesamt etwas zwielichtig, doch Sacher, der an diesem Abend jeden Gedanken an Vorsicht über Bord wirft, versteht sich auf Anhieb prächtig mit ihnen.

Der Alkohol fließt in Strömen, Sacher gibt eine Runde nach der anderen aus. Seine neue Brieftasche, dick gefüllt mit Scheinen, wird immer wieder gezückt – wie ein blutroter Fetzen vor den Augen hungriger Wölfe. „Ich glaube, wir sollten noch ein bisschen weiterfeiern“, schlägt einer der Männer vor. Die vier ziehen von Lokal zu Lokal, die Lichter der Stadt verschwimmen zu einem Strudel aus Farben und Gelächter. Sacher, von seiner eigenen Großzügigkeit berauscht, willigt ein, als die drei ihn überreden, zu einem Lokal am Stadtrand zu fahren, „wo die Nacht erst richtig beginnt“.

Am nächsten Morgen durchschneidet eine knappe Durchsage den Polizeifunk: „Unbekannte männliche Leiche hinter dem Borgfelder Landhaus – Kripo erhält Kenntnis.“ Im kalten Morgenlicht, wo der Tau noch auf den Gräsern am Ufer glitzert, liegt Friedhelm Sacher. Seine leere Brieftasche daneben im feuchten Schlamm. Hauptkommissar Böck, ein Mann mit müden Augen und zerknittertem Anzug, betrachtet die Szene mit grimmiger Miene. Ein weiterer Toter, ein weiterer Fall. Doch dieser wird ihn an die Grenzen seiner Ermittlungsfähigkeiten bringen.

Die Spurensuche gestaltet sich wie ein Puzzle mit fehlenden Teilen. Keine Ausweispapiere, keine unmittelbaren Zeugen. Böck lässt Schutzpolizisten den Tatort absperren, die Spuren sichern und die Anwohner befragen – doch niemand will in der Nacht etwas Auffälliges bemerkt haben. Der Kommissar sitzt in seinem spartanischen Büro, das Telefon klingelt ununterbrochen, überall stapeln sich Akten wie kleine Gebirgszüge. „Wenn wir in den ersten fünf Tagen keine heiße Spur haben, können wir den Fall fast abschreiben“, murmelt er seiner Assistentin zu, während er über Fotos vom Tatort brütet.

Als ein Bild des Toten in der Presse veröffentlicht wird, beginnen sich Zeugen zu melden. Bruchstücke einer Nacht werden langsam zusammengesetzt, wie ein zersplitterter Spiegel, in dem sich die Wahrheit nur verzerrt widerspiegelt. „Können Sie die anderen drei beschreiben?“ fragt Böck einen Taxifahrer. „Ja, es waren drei, nicht?!“ Die Antwort gleicht der Suche nach einem Echo in einem leeren Raum. Die Ermittlungen ziehen sich dahin wie ein Herbsttag ohne Sonnenlicht.

Puczek, Westhoff und Henning tauchen zunächst unter, doch die Schlinge zieht sich langsam zu. Als Böck sie schließlich aufspürt und verhört, verstricken sie sich in ein Geflecht aus gegenseitigen Beschuldigungen. Jeder schiebt dem anderen die Schuld zu, wie Kinder, die eine zerbrochene Vase gefunden haben. Was in jener Nacht wirklich geschah, gleicht einem Vexierbild, das je nach Blickwinkel eine andere Gestalt annimmt. Während Böck um die Wahrheit ringt, wird ihm langsam klar, wie dünn die Grenze zwischen Alltäglichkeit und Gewalt sein kann, wie leicht ein gewöhnlicher Abend in einer Tragödie enden kann…

Hinter den Kulissen

Der Tatort „Ein ganz gewöhnlicher Mord“ ist der erste und für lange Zeit einzige Beitrag von Radio Bremen zur beliebten Krimireihe. Für die Rolle des Hauptkommissars Böck schlüpfte Schauspieler Hans Häckermann in die Rolle eines Ermittlers, den er – wie auch später den Lübecker Kommissar Beck in der Folge „Slalom“ (1981) – nur für einen einzigen Fall verkörperte.

Unter der Regie des später berühmt gewordenen Dieter Wedel („Der König von St. Pauli“) wurde der Film vom Herbst 1972 in Bremen und Umgebung gedreht. Wedel, bekannt für seinen pseudo-dokumentarischen Stil, setzte auf eine realistische Darstellung der mühsamen Polizeiarbeit. Als Grundlage für das Drehbuch dienten zwei reale Kriminalfälle, um jede Form von Vorverurteilung zu vermeiden – eine Reaktion auf die Kritik am Hessischen Rundfunk für dessen Tatort „Frankfurter Gold“ ein Jahr zuvor.

Besonders bemerkenswert: Wedel arbeitete mit nahezu demselben Ensemble, mit dem er kurz zuvor den NDR-Mehrteiler „Einmal im Leben – Geschichte eines Eigenheims“ gedreht hatte. In den Hauptrollen glänzten Günter Strack als spendabler Handelsvertreter Sacher, Hans Brenner als Michael Puczek, Peter Schiff als Kurt Westhoff und Volker Eckstein als Wolfgang Henning. Wie in fast allen seinen Filmen gönnte sich Wedel auch hier einen Cameo-Auftritt – als Begleiter der Witwe Sacher.

Eine Besonderheit stellte der Gastauftritt von Tagesschau-Sprecherin Dagmar Berghoff als Fräulein Schäfer dar, sowie der Münchner Kommissar Veigl (Gustl Bayrhammer), der in einer Szene einen in München verhafteten Verdächtigen verhört – ein frühes Beispiel für Crossover verschiedener Tatort-Kommissare.

Die Erstausstrahlung am 4. Februar 1973 im Ersten Programm der ARD wurde ein voller Erfolg: Der Marktanteil lag bei beeindruckenden 53 Prozent. Trotz dieses Erfolgs sollte es 24 Jahre dauern, bis Radio Bremen mit Sabine Postel als Kommissarin Inga Lürsen 1997 in „Inflagranti“ wieder einen Tatort produzierte.

Besetzung

Kommissar Böck – Hans Häckermann
Dagmar Freidank – Brigitte Grothum
Michael Puczek – Hans Brenner
Kurt Westhoff – Peter Schiff
Friedhelm Sacher – Günter Strack
Wolfgang Henning – Volker Eckstein

Stab

Buch – Dieter Wedel
Regie – Dieter Wedel
Musik – Klaus Munro
Kamera – Rolf Romberg
Schnitt – Anna Koudelka