Kurz und knapp – darum geht’s

Die schwangere Kommissarin Charlotte Lindholm soll eigentlich nur Innendienst leisten, doch der vermeintliche Selbstmord einer jungen Deutschtürkin namens Afife lässt ihr keine Ruhe. Als Afifes Schwester Selda behauptet, es sei Mord gewesen, und gleichzeitig gesteht, selbst schwanger zu sein, aber den Vater ihres Kindes nicht nennen will, nimmt Lindholm sie vorübergehend bei sich auf. Während die Ermittlerin hinter einer familiären Fassade immer tiefere Abgründe entdeckt und gegen den Widerstand ihrer männlichen Kollegen ermittelt, ahnt sie nicht, dass sie mit ihren Nachforschungen auch Seldas Leben in Gefahr bringt…

Inhalt der Tatort-Folge „Wem Ehre gebührt“

Rastlos schiebt Charlotte Lindholm Papiere über ihren Schreibtisch im LKA Hannover. Die Uhr zeigt kurz nach zehn, draußen hüllt ein grauer Dezemberhimmel die Stadt in diffuses Licht. Die Kommissarin ist im fünften Monat schwanger und zur Schreibtischarbeit verdammt – ein Zustand, der sie sichtlich quält. Immer wieder wandert ihre Hand zum Bauch, als müsste sie sich selbst daran erinnern, warum sie nicht dort draußen sein kann, wo sie sein will: auf der Jagd nach Verbrechern.

Als die Nachricht vom Selbstmord einer jungen Deutschtürkin eingeht, nutzt Lindholm sofort die Gelegenheit. Mit einem Blick auf die leeren Büros ihrer Kollegen schnappt sie sich ihre Jacke und ist als Erste am Tatort. Die 23-jährige Afife wurde erhängt in ihrer Wohnung aufgefunden – alles deutet auf Selbstmord hin. Doch etwas an der Situation erscheint Lindholm seltsam, eine Dissonanz, die sie nicht greifen kann.

„Sie würde sich niemals umbringen“, behauptet Afifes 17-jährige Schwester Selda mit brüchiger Stimme, als Lindholm sie befragt. Das Mädchen ist verängstigt, trägt als einzige in ihrer Familie ein Kopftuch und wirkt verloren in der sterilen Umgebung des Polizeigebäudes. Als Selda ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, selbst schwanger zu sein, jedoch den Vater des Kindes nicht nennen will, beschließt die Kommissarin impulsiv, sie bei sich aufzunehmen – sehr zum Missfallen ihres Mitbewohners Martin.

Die Ermittlungen werden für Lindholm zum Spießrutenlauf. Ihr deutsch-türkischer Kollege Attila Aslan wirft ihr vor, in rassistischen Klischees zu denken, als sie einen Ehrenmord vermutet. „Wir sind nicht alle gleich, nur weil wir Türken sind“, faucht er sie an. Ihr Vorgesetzter Bitomsky hingegen nutzt ihre Schwangerschaft, um sie zur Vorsicht zu mahnen: „Sie tragen Verantwortung für zwei Leben, Frau Lindholm.“ Diese wohlmeinende Bevormundung trifft die sonst so selbstbewusste Ermittlerin empfindlicher als jede offene Konfrontation.

Lindholms Besuche bei Afifes Familie gleichen einer Reise in eine fremde Welt. In der Wohnung der Özkans muss sie ihre Schuhe an der Schwelle zurücklassen – symbolisch betritt sie einen Raum, in dem ihre gewohnten Verhörmethoden nicht greifen. Die türkischen Worte, die zwischen den Familienmitgliedern hin- und herfliegen, bleiben ihr verschlossen wie ein versiegelter Brief. Der Vater Aka, ein stämmiger Mann mit müden Augen, überragt alle im Raum; die Mutter Fatma bewegt sich wie ein Schatten durch die Wohnung, immer bemüht, jeden Wunsch zu erfüllen. Nichts in dieser Familie scheint zu den westlichen Klischees zu passen, mit denen Lindholm zunächst operiert.

Während ihrer Ermittlungen beobachtet Lindholm irritiert, wie eng das Verhältnis zwischen Selda und ihrem Schwager Erdal zu sein scheint. Könnte er der Vater ihres Kindes sein? Haben die beiden vielleicht Afife beseitigt, um ihre verbotene Liebe leben zu können? Als die Kommissarin Selda mit dieser Theorie konfrontiert, flieht diese entsetzt aus Lindholms Wohnung – und wird kurz darauf leblos aufgefunden. Wie bei einem Spiel russischen Roulettes, bei dem Lindholm unbewusst den Abzug betätigt hat, liegt nun ein weiteres Leben in ihren Händen.

Die Suche nach der Wahrheit hinter den Fassaden dieser Familie gestaltet sich für Lindholm wie ein Blindflug durch dichtes Nebelgewölk, bei dem sich erst in letzter Sekunde die tödlichen Hindernisse offenbaren.

Hinter den Kulissen

Der Tatort „Wem Ehre gebührt“ ist die 684. Folge der Krimireihe und wurde unter der Regie von Angelina Maccarone gedreht, die auch das Drehbuch verfasste. Die Erstausstrahlung erfolgte am 23. Dezember 2007 im Ersten, zeitlich passend am letzten Tag des islamischen Opferfestes. Das Produktionsteam des Norddeutschen Rundfunks (NDR) hatte die Dreharbeiten vollständig in Hannover umgesetzt.

In den Hauptrollen sind neben Maria Furtwängler als Kriminalhauptkommissarin Charlotte Lindholm auch Mehmet Kurtulus als ihr deutsch-türkischer Kollege Attila Aslan zu sehen. Kurtulus wurde durch diesen Gastauftritt beim NDR bekannt und übernahm später die Nachfolge von Robert Atzorn als Hamburger „Tatort“-Kommissar. In weiteren Rollen sind unter anderem Hilmi Sözer und Meral Perin als türkische Darsteller zu sehen. Die junge Schauspielerin Aylin Tezel spielte die Rolle der Selda.

Mit der Ausstrahlung löste der Film heftige Proteste bei der alevitischen Gemeinde in Deutschland aus. Sie sah in der Verbindung des alevitischen Glaubens mit Inzest eine historische Verunglimpfung, die an alte sunnitische Vorurteile anknüpfte. Rund 300 Aleviten demonstrierten am 27. Dezember 2007 vor dem ARD-Hauptstadtstudio in Berlin, und am 30. Dezember gingen mehr als 30.000 Aleviten in Köln auf die Straße. Der Dachverband der Alevitischen Gemeinde Deutschlands erstattete sogar Strafanzeige wegen Volksverhetzung.

Die ARD schaltete vor der Ausstrahlung – was bei Tatort-Folgen höchst ungewöhnlich ist – einen Hinweis auf die Fiktionalität der Handlung. Regisseurin Maccarone verteidigte ihren Film, betonte aber auch: „Ich breche mir auch keinen Zacken aus der Krone, wenn ich sage, es tut mir wahnsinnig leid.“ Sie hatte nach eigener Aussage bei ihren Recherchen den historischen Inzest-Vorwurf gegen Aleviten nicht gekannt.

Der Film gehört heute zu den sogenannten „Giftschrank-Folgen“ des Tatorts, die nach ihrer Erstausstrahlung nicht wiederholt werden dürfen – ein seltenes Beispiel dafür, wie eine fiktionale Unterhaltungssendung unbeabsichtigt in religiöse und kulturelle Konflikte geraten kann.

Besetzung

Charlotte Lindholm – Maria Furtwängler
Martin Felser – Ingo Naujoks
Annemarie Lindholm – Kathrin Ackermann
Cem Aslan – Mehmet Kurtulus
Stefan Bitomsky – Torsten Michaelis
Aka Özkan – Hilmi Sözer
Selda Özkan – Aylin Tezel
Galip Özkan – Azad Celik
Fatma Özkan – Meral Perin
Max Schröder – Tobias Schenke
Erdal Kara – Hakan Can
Afife Kara – Sesde Terziyan
Schmidt-Rohrbach – Eva Löbau
Brock Stephan Szasz
Dr. Poll Dieter Okras

Stab

Drehbuch – Angelina Maccarone
Regie – Angelina Maccarone
Kamera – Judith Kaufmann
Musik – Jakob Hansonis und Hartmut Ewert