Kurz und knapp – darum geht’s

Bei einer Benefizveranstaltung präsentiert sich Ingmar Borg als großer Wohltäter, doch auf dem Heimweg überfährt er betrunken eine obdachlose Frau und flüchtet in Panik vom Unfallort. Die Münchner Kommissare Batic und Leitmayr stoßen bei ihren Ermittlungen auf eine hermetisch abgeschlossene Welt zwischen Obdachlosen und vermeintlichen Wohltätern, in der das Recht des Stärkeren gilt. Als Bombadil, ein ehemaliger Anwalt und Freund des Opfers, versucht auf eigene Faust für Gerechtigkeit zu sorgen, geraten alle Beteiligten in einen gefährlichen Strudel aus Erpressung, Gewalt und Mord…

Inhalt der Tatort-Folge „Schattenwelt“

Grauer Hochnebel hängt über München, als der selbsternannte Philanthrop Ingmar Borg mit einem symbolischen Scheck vor die Kameras tritt. Im gleißenden Blitzlichtgewitter überreicht er medienwirksam eine große Spende an den Verein „Münchner Polizisten“. Der samtweiche Klang der Champagnergläser begleitet die Feierlichkeiten, während nur wenige Straßen entfernt Obdachlose unsanft vom Bahnhofsgelände vertrieben werden.

Nach der Veranstaltung steigt Borg, vom Alkohol benebelt, mit seiner attraktiven Freundin Michelle in seinen Wagen. Was für ihn nur ein kleiner Unfall im Parkhaus zu sein scheint, bedeutet für die obdachlose Sarah den Tod. Ihre leblosen Augen blicken in den kalten Nachthimmel, als Borg in Panik davonfährt. Nur Bombadil, ihr Freund von der Straße, wird unfreiwilliger Zeuge der Tragödie.

Die beiden Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr stehen ratlos vor dem Leichnam, der seltsamerweise auf einem Stuhl in der Münchner Innenstadt festgebunden aufgefunden wurde. „Wenn die Straße dein Zuhause ist, bist du für die meisten unsichtbar – im Leben wie im Tod“, murmelt Batic, während er nachdenklich über den menschenleeren Platz blickt. Als erfahrener Ermittler spürt er, dass hinter der Fassade der wohlhabenden Stadt eine Schattenwelt existiert, deren Regeln er erst noch verstehen muss.

Die einzige Verbindung in diese abgeschottete Welt scheint Anna Wolf zu sein, die sich um die Obdachlosen kümmert. Doch selbst sie kennt das Opfer nicht. Die Ermittlungen gleichen der Suche nach einem Geheimnis, das niemand preisgeben will – wie Nebelschwaden, die man zu greifen versucht und die sich doch immer wieder auflösen.

Während Leitmayr in seinen Recherchen auf einen Hamburger Rechtsanwalt stößt, der wie ein verschwundener Stern vom Himmel der Gesellschaft gefallen und nun als „Bombadil“ in der Obdachlosenszene bekannt ist, taucht Batic selbst in diese Unterwelt ein. Mit abgetragenen Kleidern und unrasiert mischt er sich unter die Wohnungslosen, spürt die schneidende Kälte und die Blicke der Passanten, die durch ihn hindurchsehen, als wäre er Luft. Doch seine Tarnung fliegt schnell auf – in dieser Welt erkennt man einen Fremden sofort.

Der mysteriöse „Rabe“, der eine kleine Gruppe Obdachloser anführt, sieht in Sarahs Tod eine Chance. Seine Stimme ist rau wie Schmirgelpapier, als er zu Bombadil sagt: „Die Gesellschaft schuldet uns etwas – und jetzt werden wir kassieren.“ Mit kalter Berechnung setzt er Borg unter Druck, fordert Schweigegeld für das, was Bombadil gesehen hat.

Borgs nach außen perfekte Welt beginnt zu bröckeln wie alter Putz, der von einer feuchten Wand fällt. Seine Freundin Michelle wird in die Erpressung hineingezogen und fleht ihn an, zur Polizei zu gehen. „Bist du verrückt?“, schnauzt er sie an. „Diese Spendenprojekte sind mein Leben – das kann ich nicht riskieren!“

Die Lage spitzt sich zu, als Michelle Kontakt zu Leitmayr aufnimmt. Mit zitternden Händen wählt sie seine Nummer, ihre Stimme ist kaum mehr als ein ängstliches Flüstern im Telefonhörer: „Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen…“ Doch bevor sie ihr Geheimnis preisgeben kann, wird sie brutal ermordet. Die Schlinge um den Hals der Wahrheit zieht sich immer enger zusammen.

Bombadils Gesicht ist von tiefen Furchen des Lebens gezeichnet, als er schließlich erkennt, dass auch der Rabe ihn nur benutzt. „Ich wollte Gerechtigkeit, keine Rache“, sagt er mit brüchiger Stimme. Zwischen den verfallenden Mauern einer verlassenen Bahnhofshalle kommt es zur Konfrontation zwischen ihm und Borg – ein Kampf zwischen dem gefallenen Idealisten und dem korrupten Wohltäter, bei dem die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen wie die Konturen der Stadt im Morgennebel.

Hinter den Kulissen

Der Tatort „Schattenwelt“ ist die 341. Folge der beliebten Krimireihe und wurde am 22. September 1996 zum ersten Mal im Ersten ausgestrahlt. Für das eingespielte Ermittlerduo Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) war es bereits der 14. gemeinsame Fall. Die Produktion des Bayerischen Rundfunks entstand unter der Regie von Josef Rödl, der gemeinsam mit Joachim Masannek auch das Drehbuch verfasste.

In der Rolle des obdachlosen Bombadil glänzt der international bekannte Schauspieler Bruno Ganz, der mit seiner eindringlichen Darstellung eines gefallenen Rechtsanwalts überzeugt. Dominic Raacke, der später selbst als Kommissar Till Ritter im Berliner Tatort bekannt wurde, verkörpert den zwielichtigen Wohltäter Ingmar Borg.

Für die authentische Darstellung des Obdachlosenmilieus hat sich Regisseur Josef Rödl intensiv mit den Schicksalen der Menschen auf der Straße beschäftigt. Eine Besonderheit bei den Dreharbeiten: Mit Hans Arndt wurde ein Darsteller engagiert, der früher selbst obdachlos war. Obwohl er im Film kein Wort spricht, konnte er dem Filmteam wertvolle Einblicke in das Leben auf der Straße geben und trug maßgeblich zur Authentizität der Darstellung bei.

Die Dreharbeiten fanden im Winter 1995/96 in München statt, wobei die kalte Jahreszeit bewusst gewählt wurde, um die harten Lebensbedingungen der Obdachlosen zu verdeutlichen. Gedreht wurde unter anderem am Münchner Hauptbahnhof, in verschiedenen Parkhäusern und im berüchtigten Bunker unter der Bavaria, der damals tatsächlich als Notunterkunft diente.

Bei der Erstausstrahlung erreichte „Schattenwelt“ beachtliche 8,37 Millionen Zuschauer und einen Marktanteil von 24,09 Prozent für Das Erste. Trotz der sozialkritischen Thematik und der starken Besetzung rangiert die Episode im Tatort-Blog allerdings nur auf Platz 300 von 911 möglichen Plätzen.

Nach der Ausstrahlung wurde besonders die realistische Darstellung des Obdachlosenmilieus von Kritikern gelobt. Rödls Inszenierung wurde als „düster-schräger Milieu-Krimi“ beschrieben, der an Fritz Langs Klassiker „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ erinnere. Auch die Leistung von Bruno Ganz als „mehrfach gebrochener Aussteiger“ fand große Anerkennung in der Presse.

Besetzung

Hauptkommissar Franz Leitmayr – Udo Wachtveitl
Hauptkommissar Ivo Batic – Miroslav Nemec
Bombadil – Bruno Ganz
Borg – Dominic Raacke
Anna – Luise Kinseher
Rabe – Erwin Leder
Michelle – Marion Mitterhammer
Charly – Viktor Schenkel
Frau von Rasmussen – Rosemarie Gerstenberg
Flach – Karl Friedrich
Jörg Kross – Peter Rappenglück

Stab

Regie – Josef Rödl
Musik – Roman Bunka
Buch – Joachim Masannek und Josef Rödl

Bilder – HR/BR