Tatort Folge 444: Rattenlinie

Kurz und knapp – darum geht’s

Ein erstochener alter Mann wird auf einem Autobahnparkplatz bei Hamburg gefunden – Otto Wissing arbeitete viele Jahre als Tierpfleger im nahe gelegenen Kloster St. Marien und galt dort als unbequemer Einzelgänger. Die Hamburger Kommissare Stoever und Brockmöller stoßen bei ihren Ermittlungen hinter Klostermauern auf ein Netz aus Geheimnissen, wertvolle Dürer-Kunstwerke wurden gegen Fälschungen ausgetauscht. Als Stoever undercover als „Bruder Paul“ im Kloster einzieht und der zurückgezogene Bruder Erich eine merkwürdige Vergangenheit offenbart, geraten die Kommissare in ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte…

Inhalt der Tatort-Folge „Rattenlinie“

Kühler Nebel wabert über den Rastplatz Stillhorn, als die Beamten die Leiche entdecken. Im fahlen Morgenlicht liegt der alte Otto Wissing, erstochen, zurückgelassen wie Abfall neben der Autobahn. Kommissar Paul Stoever betrachtet nachdenklich das Gesicht des Toten, während sein Kollege Peter Brockmöller – von allen nur „Brocki“ genannt – bereits die ersten Hinweise sammelt. Der alte Mann war Tierpfleger im nahen Kloster St. Marien, einem mächtigen Backsteinbau, der sich wie ein dunkler Schatten über die Landschaft erhebt.

„Ein Kloster. Ausgerechnet ein Kloster“, murmelt Stoever und streicht sich über den kahlen Kopf. Der erfahrene Kommissar wirkt angespannt. Seine letzte Begegnung mit kirchlichen Würdenträgern verlief nicht gerade harmonisch. Sein Kollege Brockmöller hingegen tritt den Ermittlungen mit gewohnter Leichtigkeit entgegen. „Die meisten Klosterbrüder sind schwul, sagt man“, wirft er mit einem Augenzwinkern ein, während sie die steinernen Stufen zum Eingangsportal erklimmen.

Im Kloster herrscht eine seltsame Atmosphäre – das gedämpfte Licht, das durch die bunten Kirchenfenster fällt, die flüsternden Stimmen in den gewölbten Gängen, der Geruch nach alten Büchern und Weihrauch. Abt Zumbrink empfängt die Kommissare mit kühler Höflichkeit. „Wissing war ein Querulant“, erklärt er mit gefalteten Händen. „Er wollte nicht, dass wir den Klosterberg verkaufen.“ Ein Motiv? Stoever und Brockmöller tauschen vielsagende Blicke.

Die Ermittlungen gleichen einem Irrgang durch ein Labyrinth aus Halbwahrheiten und Verschleierungen. Die Klosterbrüder verhalten sich abweisend, jeder scheint ein Geheimnis zu hüten. Der Weg zur Wahrheit ist versperrt wie die schweren Eichentüren, die nachts sorgsam verschlossen werden. Bald wird klar: Hier hilft nur eine unkonventionelle Methode. „Ich werde undercover ermitteln“, entscheidet Stoever. „Als Bruder Paul.“

Die braune Kutte sitzt erstaunlich gut an Stoevers kräftiger Gestalt, die Tonsur auf seinem ohnehin kahlen Kopf wirkt täuschend echt. „Kaum vorstellbar, dass du jemals etwas anderes getragen hast“, scherzt Brocki bei ihrem heimlichen Treffen. Doch hinter dem Humor verbirgt sich Anspannung. Stoever hat beunruhigende Entdeckungen gemacht. Im dämmrigen Licht der Klostergalerie hat er Hinweise gefunden, dass jemand die wertvollen Dürer-Zeichnungen gegen Fälschungen ausgetauscht hat. War Wissing Zeuge dieses Kunstdiebstahls?

Bruder Manfred, der Kunstexperte des Klosters, wirkt nervös, wann immer Stoever ihn auf die Sammlung anspricht. Und was hat es mit seiner heimlichen Beziehung zu Gerd Löhden auf sich, dem Sohn des einflussreichen Politikers Alfred Löhden? Wie sich herausstellt, ist der Politiker ein Ziehsohn des Abts – eine Verbindung, die mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

Eine besonders rätselhafte Figur ist Bruder Erich, der nach langen Jahren im Ausland erst kürzlich ins Kloster zurückgekehrt ist. Der alte Mann lebt zurückgezogen wie ein Einsiedler in seiner Klause auf dem Klosterberg. Sein wettergegerbtes Gesicht verrät nichts von seinen Gedanken, doch in seinen Augen liegt etwas Lauerndes, Unruhiges.

In einer stürmischen Nacht schleicht Stoever durch die verlassenen Kreuzgänge. Das Mondlicht wirft gespenstische Schatten auf den Steinboden. Er belauscht ein Gespräch zwischen dem Abt und Bruder Erich, gedämpfte Stimmen, die von Schuld und Sühne sprechen. „Die Vergangenheit holt uns immer ein“, flüstert der Abt. „Auch nach all den Jahren.“

Was hat Otto Wissing gewusst? Welche Verbindung besteht zwischen dem ermordeten Tierpfleger und dem geheimnisvollen Bruder Erich? Als Stoever und Brockmöller beschließen, einen Trick anzuwenden, um den Mörder zu entlarven, ahnen sie nicht, dass sie damit ein Kapitel deutscher Geschichte aufschlagen, das lieber verschlossen geblieben wäre…

Hinter den Kulissen

„Rattenlinie“ ist der 444. Fall der Tatort-Reihe und wurde vom Norddeutschen Rundfunk produziert. Die Dreharbeiten fanden im Herbst 1999 in Hamburg und Umgebung statt, wobei für die Klosterszenen das Kloster Cismar in Schleswig-Holstein als atmosphärische Kulisse diente. Die gotischen Backsteinbauten verleihen dem Film seine besondere Atmosphäre, die von Kameramann Hartwig Strobel mit stimmungsvollen Bildern eingefangen wurde.

Unter der Regie von Hartmut Griesmayr spielten neben den Hauptdarstellern Manfred Krug (Kommissar Paul Stoever) und Charles Brauer (Kommissar Peter Brockmöller) auch Rolf Illig als Abt Zumbrink, Alexander May als mysteriöser Bruder Erich und Walter Kreye als Politiker Alfred Löhden. Die Erstausstrahlung am 28. Mai 2000 verfolgten beachtliche 9,13 Millionen Zuschauer, was einem Marktanteil von 27,06 Prozent entsprach.

Wie in vielen ihrer gemeinsamen Folgen treten Krug und Brauer auch in „Rattenlinie“ als Gesangsduo auf – diesmal mit dem Lied „Ave Maria No Morro“, das sie in einer ruhigen Szene im Kommissariat anstimmen.

Der Titel der Folge hat einen historischen Hintergrund: Als „Rattenlinien“ bezeichnete man nach dem Zweiten Weltkrieg die Fluchtwege hochrangiger Nationalsozialisten und SS-Angehöriger, die über Italien nach Südamerika führten. Diese Fluchtrouten wurden häufig von Mitgliedern der katholischen Kirche unterstützt, weshalb parallel auch der Begriff „Klosterrouten“ existierte. Der Tatort greift dieses brisante historische Thema auf und verknüpft es mit einer fiktiven Kriminalgeschichte, die zum Nachdenken über Schuld, Verantwortung und die Last der Vergangenheit anregt.

Nach der Ausstrahlung löste die Folge kontroverse Diskussionen über die Rolle der katholischen Kirche in der Nachkriegszeit aus. Kritiker lobten den Mut, ein solch heikles Thema im Rahmen eines Sonntagabendkrimis zu behandeln, während andere die Darstellung als zu vereinfacht kritisierten.

Videos zur Produktion

Video 30 Sekunden aus den ersten 30 Minuten

Besetzung

Paul Stoever – Manfred Krug
Peter Brockmöller – Charles Brauer
Zumbring – Rolf Illig
Bruder Manfred – Dirk Martens
Alfred Löhden – Walter Kreye
Bruder Erich – Alexander May
Elisabeth Löhden – Eva Kryll
Gerd Löhden – Ole Puppe
Else – Eva Brumby
Otto Wissing – Werner Dissel
Stefan Struve – Kurt Hart
Viktor – Edgar Hoppe

Stab

Buch – Raimund Weber
Regie – Hartmut Griesmayr
Produktion – Kerstin Ramcke
Redaktion – Doris J. Heinze
Kamera – Hartwig Strobel
Schnitt – Birgit Levin
Musik – Klaus Doldinger
Maske – Klaus Gloede
Bildtechnik – Josef Breuche
Ton – Detlef Fiebig

Bilder: NDR/Manju Sawhney

6 Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

×
  1. vor 9 Jahren

    Der Tatort mit der Nummer 444 aus Hamburg. Die beiden Hauptkommissare Stoever und Brockmöller, die Korrektheiten in Person und dennoch für ihre außergewöhnlichen Ermittlungsmethoden bekannt, ermitteln in diesem dann doch etwas unrealistisch wirkenden Tatort-Spielfilm unter anderem als eingeschleuste Klosterbrüder in einem norddeutschen Kloster, reich ausgestattet mit kunstvollen und wertlosen Fälschungen. Ein Mordfall will geklärt werden und Bruder Stoever kommt außergewöhnlichen Intrigen auf die Spur, da kann der Brockmöller nur staunen. Dennoch ein spannender und interessant zu schauender Tatort-Fernsehfilm, welcher sich nicht nur mit der aktuellen Politik aus dem Jahr 2000 beschäftigt, sondern auch ein dunkles Geheimnis von Ordensträgern aus der noch jüngeren Vergangenheit Deutschlands zum Inhalt hat. Sehenswert.

  2. vor 9 Jahren

    Dieses Gespann erinnert mich stark an Bert Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matthi“. Stoever, der ewige Mitesser und wenig begnadete Sänger gestaltete seine Rollen der allgemeinen Energiekrise mit einem einzigen Gesichtsausdruck.
    Bei Kommissar Brockmann hatte man eher das Gefühl, dass er sich gern zur Lösung hin treiben ließ. Seine Rolle war eher die des Kofferträgers.

  3. vor 6 Jahren

    Prima.
    Der Tatort ist zeitlos gut, trotz der Gesangseinlagen.

  4. vor 4 Jahren

    Herrlich

  5. vor 4 Jahren

    Manfred Krug und Charles Brauer sind noch Schauspieler der alten Schule. Sie sprechen klar und deutlich. Wenn ich mir so manch einen neuen Tatort anschaue, da wird doch nur noch reingenuschelt und es ist kaum zu verstehen.
    Schauspielschulen sollten mal wieder mehr Wert darauf legen!

  6. vor 4 Jahren

    Einer der besten seit langem. Grossartiges Drehbuch, viele positive Überraschungen und wirklich mal ganz was anderes. Schade das sie den Korn nicht zu testen bekamen, aber ds Thema war ja traurig und ernst.
    PS An der Grenze bei Leithum steht ein ;onument, wo ihr über die erwähnte Geschichte nchlesen könnt. Das ist leider wirklich passiert.
    Gruss aus Ostbelgien

Neue Tatort-Folgen
Baden-Baden
14 Folgen
Berlin
96 Folgen
Bern
12 Folgen
Braunschweig
1 Folgen
Bremen
49 Folgen
Bremerhaven
1 Folgen
Dortmund
28 Folgen
Dresden
39 Folgen
Duisburg
29 Folgen
Düsseldorf
15 Folgen
Erfurt
2 Folgen
Essen
22 Folgen
Frankfurt
87 Folgen
Freiburg
1 Folgen
Göttingen
5 Folgen
Hamburg
105 Folgen
Hannover
30 Folgen
Heppenheim
1 Folgen
Kiel
51 Folgen
Köln
100 Folgen
Konstanz
31 Folgen
Leipzig
44 Folgen
Lübeck
2 Folgen
Ludwigshafen
81 Folgen
Luzern
17 Folgen
Mainz
7 Folgen
München
124 Folgen
Münster
47 Folgen
Nürnberg
10 Folgen
Saarbrücken
45 Folgen
Schwarzwald
14 Folgen
Stade
1 Folgen
Stuttgart
78 Folgen
Weimar
11 Folgen
Wien
90 Folgen
Wiesbaden
13 Folgen
Zürich
9 Folgen