Tatort Folge 646: Das zweite Gesicht



Mo 16.12. 20:15 Uhr RBB

Di 17.12. 23:30 Uhr RBB

Erscheinungsjahr: 2006
Kommissar: Thiel und Boerne
Ort: Tatort Münster


Kurz und knapp – darum geht’s

In den frostigen Straßen Münsters, wo sich hinter prächtigen Fassaden die Abgründe der besseren Gesellschaft verbergen, inszeniert der WDR ein düsteres Kammerspiel um Schuld und Sühne. Eine Hellseherin, die zu tief in die Vergangenheit einer Industriellenfamilie blickte, findet in einer verfallenen Villa den Tod. Was oberflächlich nach einem Unfall aussieht, entpuppt sich als perfide kalkulierter Mord – und führt zurück zu einem sechs Jahre zurückliegenden Familiendrama der städtischen Elite. Der zehnte Fall des Münsteraner Ermittlerduos gerät zur brillanten Synthese aus Gothic Novel, Gesellschaftssatire und psychologischem Thriller.

Inhalt der Tatort-Folge „Das zweite Gesicht“

Prolog im Frost

Der Winter hält Münster in einem klirrenden Würgegriff, als ausgerechnet in Professor Boernes großbürgerlichem Domizil die Heizung kollabiert – eine fast schon zu plakative Metapher für die emotionale Kälte, die sich durch den gesamten Fall zieht. Während der selbsternannte Grandseigneur der Rechtsmedizin und sein unwilliger Untermieter, Kommissar Thiel, noch um die letzten Grad Celsius ringen, fordert der Frost sein erstes Opfer: Ein Obdachloser, später identifiziert als Karl-Heinz Metzler, wird leblos aufgefunden – ein erstes Puzzlestück in einem perfide konstruierten Spiel um Identitäten.

Das Medium und die Mordvilla

In diese winterliche Szenerie platzt der Tod der stadtbekannten Hellseherin Roswitha Brehm. Ihr Ableben in der Steinhagen-Villa – einem Monument vergangener Industriellenherrlichkeit – könnte symbolträchtiger nicht sein. Hier, wo sich vor sechs Jahren ein Familienmassaker ereignete, das die städtische High Society erschütterte, endet nun auch die selbsternannte Seherin der unsichtbaren Welten. Die Villa, einst Schauplatz eines nie vollständig geklärten Verbrechens, bei dem die Familie Steinhagen – bis auf die im Internat weilende Tochter Franziska – spurlos verschwand, wird erneut zum Tatort.

Ketamin und Klartext

Boernes forensische Expertise entlarvt den vermeintlichen Treppensturz als raffinierten Mord. Ketamin, das Narkosemittel der Wahl, wurde der herzkranken Wahrsagerin zum Verhängnis – ein Tod, präzise orchestriert wie eine Bachsche Fuge. In ihrer Wohnung, einem skurrilen Kabinett des Übersinnlichen, finden die Ermittler neben den üblichen Requisiten des okkulten Handwerks – Kristallkugeln, Tarotkarten, Pendel – ein Notizbuch voller Visionen. Doch die entscheidenden Seiten fehlen, herausgerissen wie die fehlenden Kapitel dieser Münsteraner Tragödie.

Akademische Verstrickungen

Die Spur führt in die heiligen Hallen der Wissenschaft: Dr. Hanno Mittenzwey, Roswithas Patensohn und Dozent der überlebenden Steinhagen-Tochter, wird zur Schlüsselfigur. Ein Mann zwischen den Welten – akademische Ratio trifft auf okkulte Familientradition. Sein Tod bei einem fingierten Verkehrsunfall trägt die Handschrift professioneller Präzision. In seinem Wagen finden sich die fehlenden Seiten aus Roswithas Notizbuch – ein posthumes Vermächtnis, das zu den sterblichen Überresten der Steinhagen-Eltern führt.

Die Wahrheit hinter den Wänden

Was sich schließlich offenbart, ist ein Sittengemälde bürgerlicher Dekadenz: Der Patriarch, der sich nach einem eskalierenden Ehestreit selbst richtet – eine letzte Machtdemonstration des gescheiterten Familienoberhaupts. Der Sohn Christoph, der in blindem Zorn zur Mutter wird, flieht mit geborgter Identität. Die Schwester Franziska, scheinbar unschuldiges Internatsmädchen, entpuppt sich als eiskalte Strategin, die das finale Kapitel dieser Familiensaga selbst schreibt.

Gesellschaftliche Dimensionen und Zeitkritik

Der Fall spiegelt präzise die Verfallserscheinungen einer Gesellschaftsschicht, die ihre moralischen Koordinaten längst verloren hat. Hinter den gepflegten Fassaden der Münsteraner Villenviertel lauern Abgründe, die der Tatort mit fast schon genüsslicher Präzision seziert. Die defekte Heizung in Boernes Haus wird dabei zum wiederkehrenden Leitmotiv einer erkalteten Gesellschaft, in der selbst familiäre Bande der Profitgier zum Opfer fallen.

Hintergrundinformationen zur Produktion

Für das zehnte Jubiläum des Münsteraner Ermittlerduos griff der WDR tief in die dramaturgische Trickkiste. Mit Matthias Seelig, der sich durch den Grimme-preisgekrönten Psychothriller „Der Sandmann“ bereits als Meister komplexer Narrationen erwies, wurde ein Autor verpflichtet, der die Balance zwischen Krimihandwerk und Gesellschaftsanalyse beherrscht. Die Dreharbeiten, realisiert im klirrend kalten Münsteraner Winter 2006, schufen die perfekte Atmosphäre für diesen komplexen Psychothriller.

Charakterstudien

Das ungleiche Duo

Prahl und Liefers zelebrieren ihre Hassliebe mit der Präzision eines eingespielten Kammerorchesters. Thiels bodenständige Ermittlungsarbeit trifft auf Boernes akademischen Größenwahn – ein Clash der Kulturen, der sich in brillant geschliffenen Dialogen entlädt. Besonders in den Szenen um die defekte Heizung – eine gelungene Metapher für die erkalteten Beziehungen der Oberschicht – brilliert das Duo mit pointiertem Wortwitz und subtiler Gesellschaftskritik.

Die Nebenfiguren

Friederike Kempters Nadeshda Krusenstern emanzipiert sich in dieser Folge von der reinen Assistentenrolle und zeigt Ansätze eigenständiger Ermittlungsarbeit. Lavinia Wilson überzeugt als Franziska Steinhagen mit einer vielschichtigen Darstellung zwischen Trauma und Kalkül. Ihre Performance als manipulative Erbin mit subtil angedeuteten psychopathischen Zügen gehört zu den Glanzlichtern dieser Folge.

Inszenierung und Stilmittel

Regisseur Tim Trageser findet die perfekte Balance zwischen Gothic Horror und satirischer Gesellschaftsbeobachtung. Seine Inszenierung bedient sich gekonnt bei den Klassikern des Genres – von Edgar Allan Poes „House of Usher“ bis zu Hitchcocks psychologischen Thrillern – ohne dabei in platte Imitation zu verfallen. Die geschickt platzierten Slapstick-Elemente fungieren als kathartische Ventile in einem ansonsten beklemmenden Psychogramm familiärer Abgründe.

Visuelle Ästhetik

Eckhard Jansens Kameraarbeit betont die klaustrophobische Atmosphäre der winterlichen Stadt. Seine Bilder fangen die morbide Schönheit der verfallenden Villa ebenso ein wie die sterile Kälte der akademischen Welt. Die Farbpalette, dominiert von Grau- und Blautönen, unterstreicht die emotionale Kälte der Handlung.

Videos zum Tatort

Team Video



ARD Plus Trailer



Tatort-Kritik

Was zunächst als konventioneller Krimi mit übernatürlichem Einschlag beginnt, entwickelt sich zu einer präzisen Vivisektion bürgerlicher Fassaden. Der Fall jongliert virtuos mit den Elementen klassischer Gothic Novel und verwebt sie zu einer zeitgemäßen Gesellschaftskritik. Die komplexe Erzählstruktur, die mehrere Zeitebenen und Perspektiven verschränkt, verlangt dem Zuschauer einiges ab, belohnt aber mit einem differenzierten Blick auf die Abgründe der vermeintlich besseren Gesellschaft.

Der WDR beweist mit diesem Jubiläumsfall, dass das Format Tatort auch nach Jahrzehnten noch zu überraschen vermag. Die geschickte Vermischung von Genres, die präzise Gesellschaftsanalyse und nicht zuletzt die brillanten schauspielerischen Leistungen machen „Das zweite Gesicht“ zu einem Highlight der Reihe.

Besetzung

Kommissar Frank Thiel – Axel Prahl
Professor Karl-Friedrich Boerne – Jan Josef Liefers
Silke Haller (alias „Alberich“) – Christine Urspruch
Wilhelmine Klemm – Mechthild Großmann
Herbert Thiel – Claus D. Clausnitzer
Dr. Hanno Mittenzwey – Hans-Jochen Wagner
Eugen Krawzyk – Alexander Hörbe
Manni – Paul Fassnacht
Jansen – Sebastian Kröhnert
Roswitha Brehm – Gudrun Ritter
Nadeshda Krusenstern – Friederike Kempter
Franziska Steinhagen – Lavinia Wilson
Köster – Markus John
u.a.

Stab

Drehbuch – Matthias Seelig, Claudia Falk
Regie – Tim Trageser
Kamera – Eckhard Jansen
Szenenbild – Alexander Scherer
Musik – Ulrich Reuter

Bilder: WDR/Kost


Die Folge "Tatort Folge 646: Das zweite Gesicht" gibt es auch auf DVD/Bluray. Jetzt Preise und Verfügbarkeit prüfen im DVD Archiv.

24 Meinungen zum Tatort Folge 646: Das zweite Gesicht

  • Eike • am 17.2.10 um 23:49 Uhr

    Thiel und Boerne in Höchstform! Wie immer ein klasse Tatort, sehr empfehlenswert!

    Antworten
  • Kathy • am 10.3.10 um 15:27 Uhr

    Wie wir alle wissen ist Professor Boerne ist kein Mann für Kassenpatienten. Er liebt alles was Geld kostet, viel Geld und wenn er eben dieses verliert, kann das sehr, sehr lustig werden. ^^ Thiel auf der anderen Seite ist einfach nur KALT. Und bei unserem jetzigen Wetter, kann man irgendwie wunderbar sympathisieren… Ansonsten hätte der Folge bisschen mehr `X-Files Feeling´ bestimmt nicht schlecht getan. Nicht der beste Tatort aus Münster, aber sicherlich auch nicht der Schlechteste.

    Antworten
  • anzdanz • am 18.10.10 um 23:35 Uhr

    Hallo

    Habe das Wichtigste verpasst, konnte nur bis in die Mitte gucken: Wer ist der Mörder…? Der Bruder? Und wer ist der Bruder?

    Vielen Dank und Gruss!

    anzdanz

    Antworten
  • claudispider • am 27.1.12 um 22:09 Uhr

    Hallo ,
    habe auch nicht bis zum Schluss sehen können. Hat der Bruder die Eltern getötet? Wer hat die anderen beiden getötet? Und warum?
    Danke für eine Antwort.
    Gruß claudispider

    Antworten
  • Dana • am 20.10.12 um 8:39 Uhr

    Ich habe das Ende nicht verstanden: Hat der Bruder die Mutter getötet oder hat die Schwester gelogen? Und wer hat die anderen drei getötet? Und wieso wird im entscheidenden Moment genuschelt?

    Antworten
  • CHRIS Z. • am 8.2.13 um 8:30 Uhr

    Der Tatort erinnert mich an „Weil sie böse sind“.
    Es ist oft so, daß die freche Arroganz von einigen Reichen zum Fall führt……

    Antworten
  • BörneFan • am 11.2.13 um 22:23 Uhr

    Wie heißt der Wein, den Börne in der Gaststätte nach dem Mord an Mittenzwey bestellt ?

    Antworten
  • Eike • am 12.2.13 um 15:25 Uhr

    Der Vater hatte sich selbst getötet, der Bruder daraufhin die Mutter, und die Schwester die Wahrsagerin, den Prof(?) und zum Schluss den Bruder.

    Was ich nicht verstanden habe: Der Obdachlose scheint sich ja selbst umgebracht zu haben, nach dem, was sein „Kollege“ gesagt hatte (und dem Abschiedsbrief). Woher hatte der Bruder dann aber den Ausweis, den er ja zum Beispiel im Hotel verwendet hat?

    Antworten
  • Ernst Lang • am 6.10.13 um 12:28 Uhr

    Wenn ich richtig gehört habe, sagte Boerne etwas in einer indianischen Sprache. Den Zusammenhang weiss ich nicht mehr, aber es klang nach Lakota. Habe ich recht?

    Antworten
  • tatort-fan • am 16.2.14 um 18:03 Uhr

    Ein echt super Tatort! Besonders gut gefallen hat mir die Geschichte mit dem Euro Beton:) Herrlich
    aber dieser Tatort war nicht nur witzig er war auch spannend. Dann noch die Sache mit der Heizung und der Sonntagabend ist gerettet! Es lebe der Tatort Münster:D

    Antworten
  • Ich • am 18.4.14 um 16:02 Uhr

    Klasse Tatort, sehr lustig, wenn auch etwas schwer zu verstehen. Ich weiß immer noch nicht, wer jetzt der Bruder war… von dem sieht man nur einmal am Ende die Füsse, oder? und was hat Krafzyk mit dem Bruder und der Franziska Steinhagen zu tun?????
    Trotzdem Fünf Sterne, wegen der extrem lustigen Nebenhandlung mit der Heizung!!

    Antworten
  • Lalva • am 11.5.14 um 13:21 Uhr

    Der Tatort war Perfect! Sogar bis jetzt der beste! Auch wenn ich das Ende nich verstanden habe

    Antworten
  • Lalva • am 11.5.14 um 13:22 Uhr

    Der Tatort war Perfect! Sogar bis jetzt der beste! Auch wenn ich das Ende nich verstanden habe, EGAL!
    Er war trotzdem super, spannend und mal wieder lustig! Ich finde die besten Tatorte kommen von :
    Thiel & boerne!
    -Alva

    Antworten
  • Hanna • am 25.7.14 um 19:49 Uhr

    Super! Ich mag die Muensteraner Tatorte eigentlich nicht, viel zu klamaukig. Diesen Tatort fand ich allerdings richtig gut! Die Geschichte mit der Heizung war einfach nur super. Der Tatort war lustig und spannend.

    Antworten
  • Wilhelm A. • am 10.10.14 um 10:34 Uhr

    Wiederholung am 9.10.14. Gute, alte Bekannte trifft man gerne wieder!

    Antworten
  • Dirk • am 29.10.15 um 22:11 Uhr

    Der Tatort Nummer 646, diesmal aus Münster. Neben Hauptkommissar Thiel hat nun auch Kommissarin Krusenstern einen Fall. Außerdem mit von der Partie: Professor Boerne und Staatsanwältin Klemm. Es geht um Kälte, einmal meteorologischer, einmal menschlicher Art. Aber bei der Vielzahl der Wiederholungen dieses Spielfilms aus Münster, kann man sich die Einzelheiten innerhalb und außerhalb um die herrschaftlichen Gemäuer einfach nur sparen. Diesen Tatort-Fernsehfilm kann man ohne Bedenken mehrmals sehen, bei einer leckeren Feuerzangenbowle, Pfeffernüssen und in spaßiger Gesellschaft. Sehenswert.

    Antworten
  • Gudrun • am 27.12.16 um 13:44 Uhr

    Eine der besten Münsteraner Tatorte. Witzig, interessante Geschichte, gut ausgearbeitete Charaktäre.

    Antworten
  • Frank • am 11.5.18 um 6:15 Uhr

    Einmal mehr eine unsägliche Episode aus Münster. Eigentlich nur für Freunde des billigen Klamauks auszuhalten, was ja auch die anderen Kommentare hier bestätigen, nach dem Motto ich habe zwar nichts verstanden, aber es war lustig. Es wirkte wie jeder Tatort Fan darf eine Szene einreichen und die pappt man dann mal fröhlich zusammen. Zum davon laufen!

    Antworten
  • slice me nice • am 10.6.18 um 20:27 Uhr

    Sehr sehenswert, vor allem aufgrund der großartig in Szene gesetzten Hellseherin!! Sie ist Dreh- und Angelpunkt des ganzen Geschehens, was diesem Tatort eine schön unheimliche Mystery-Atmosphäre verleiht. Als Kontrast dazu wirkt der Boerne-Thiel-Streit um defekte Heizkörper inmitten klirrender Winterkälte überhaupt nicht störend, sondern unterstreicht den Eindruck, dass es in diesem Fall um andere Empfindungswelten geht, die an einen Ausnahmezustand geraten sind. Auch wenn, da muss ich der Kritik recht geben, leider am Ende mehr Fragen offen bleiben, als durch die „Aufklärung“ beantwortet werden.
    Trotzdem 5 Sterne.

    Antworten
  • Monika Rabl • am 17.12.20 um 19:56 Uhr

    Der beste Tatort! Spannend aber auch lustig! Super Schauspieler, allen voran Prof. Boerne und Frau Haller.

    Antworten
  • WW • am 22.12.20 um 0:16 Uhr

    Dieser Tatort beginnt sehr spannend und bietet beste Unterhaltung. Leider wird die Handlung dann etwas konfus und das Ende enttäuscht dann auch. Die Dialoge sind manchmal bizarr, aber mit der richtigen Portion Humor und die Figuren sind unterhaltsam gezeichnet. Insgesamt sehr empfehlenswert.

    Antworten
  • Krusl • am 11.1.23 um 1:06 Uhr

    Als fan der münsteraner fand ich diesen tatort sehr enttauschend. Mein einfaches gemüt hat hier die witzigen dialoge vermißt und die völlig verworrene mordserie war unklar und unaufgeklart. Der schlechteste börne-thiel-tatort von allen. Kannte ihn bisher nicht – also auch selten wiederholt – mit recht…

    Antworten
Schreiben Sie Ihre Meinung.

Ihre E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht.

Tatort Sendezeiten

Ihr findet uns unter
Neue Tatortfolgen
Weitere Folgen
Kommissarübersicht
Stadt Archiv