Kurz und knapp – darum geht’s

Autos klauen und Rennen fahren – so leben die Dresdner Crash-Kids Lucky und seine Freunde ihr jugendliches Dasein am Limit aus. Als sie im Kofferraum eines gestohlenen Mercedes die Leiche eines Mannes entdecken, wittern sie die Chance auf schnelles Geld und erpressen den Besitzer, einen Spielothekenbetreiber. Doch was die Jugendlichen nicht ahnen: Hinter der harmlosen Fassade verbirgt sich ein skrupelloses Menschenhändlerring mit tschechischen Mädchen. Als die Kommissare Ehrlicher und Kain beginnen, unbequeme Fragen zu stellen, verwandelt sich der vermeintlich clevere Erpressungsplan der Jugendlichen in einen tödlichen Albtraum…

Inhalt der Tatort-Folge „Jetzt und alles“

Der Motorenlärm zerreißt die nächtliche Stille Dresdens, als Lucky und seine Gang durch die menschenleeren Straßen rasen. Das grelle Scheinwerferlicht ihrer gestohlenen Boliden schneidet durch die Dunkelheit wie ein Skalpell. Für die 14- bis 16-jährigen Crash-Kids ist der Nervenkitzel der geklauten Autos längst zur Sucht geworden – sie leben für den Moment, für das „Jetzt und alles“.

Hauptkommissar Bruno Ehrlicher bewegt sich in dieser Welt wie ein Dinosaurier aus einer anderen Zeit. Mit seinem altmodischen Trenchcoat und der bedächtigen Art wirkt er deplatziert in der hektischen Jugendwelt der frühen 90er Jahre. Sein jüngerer Kollege Kain versucht zwar, eine Brücke zu den Jugendlichen zu schlagen, doch auch ihm begegnen die Kids mit einer Mischung aus Misstrauen und Verachtung. „Was willst du, Bulle?“, ist meist die einzige Antwort, die er erhält.

Die eigentliche Dynamik der Geschichte entfaltet sich, als Lucky und sein Kumpel den Mercedes des Spielothekbesitzers Wille knacken. Im Licht ihrer Taschenlampen macht sich plötzlich ein gespenstisches Bild breit: Im Kofferraum liegt regungslos die Leiche eines älteren Mannes. „Der hat’s hinter sich“, murmelt Lucky, während sein Freund panisch wegrennen will. Doch in Luckys Kopf formt sich bereits ein Plan – ein verhängnisvoller Plan.

Das Auto wird zur lodernden Fackel, als die Jugendlichen es abfackeln, um Spuren zu verwischen. Die gelben Flammen spiegeln sich in ihren Augen wider, die vom Gedanken an schnelles Geld leuchten. Während Ehrlicher und Kain noch am ausgebrannten Wrack ermitteln, setzen die Jungen bereits ihre Erpressung in Gang.

In der schummrigen Beleuchtung seiner Spielothek wirkt Wille zunächst wie ein gewöhnlicher Geschäftsmann, der in Bedrängnis geraten ist. Seine Frau, stets elegant und distanziert, scheint nur besorgt um ihren Ruf zu sein. Doch hinter der bürgerlichen Fassade verbirgt sich ein düsteres Geschäft, das wie ein giftiges Netz die Grenze nach Tschechien überspannt.

Die Fahndung der Kommissare gleicht einem Tanz im Nebel. Jede Spur, der sie folgen, verflüchtigt sich, sobald sie näher kommen. „Die Eltern haben längst aufgegeben“, erklärt eine Sozialarbeiterin resigniert, als Ehrlicher nach den Crash-Kids fragt. „Die Kinder leben in ihrer eigenen Welt, mit ihren eigenen Regeln.“

Währenddessen gerät Lucky immer tiefer in ein Spiel, dessen wahre Regeln er nicht kennt. Als er Zeuge wird, wie Ollenberg ein verängstigtes tschechisches Mädchen transportiert, ahnt er noch nicht, dass er damit sein eigenes Todesurteil unterschreibt. Die verstörten Augen des Mädchens werden zum Katalysator für seine letzte, verhängnisvolle Entscheidung.

Die grauen Plattenbauten am Stadtrand werden zu stummen Zeugen einer Jagd, bei der aus Jägern plötzlich Gejagte werden. Für Lucky und seine Freunde verwandelt sich der Traum vom schnellen Reichtum in einen Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt…

Hinter den Kulissen

Der Tatort „Jetzt und alles“ ist die 294. Folge der langlebigen Krimireihe und wurde vom MDR unter der Regie von Bernd Böhlich produziert. Für das Ermittlerduo Hauptkommissar Bruno Ehrlicher (Peter Sodann) und Kain (Bernd Michael Lade) war es bereits der sechste Fall in Dresden. Die Dreharbeiten fanden im Frühjahr 1994 statt, die Erstausstrahlung erfolgte am 31. Juli 1994 in Das Erste.

In der Rolle des jugendlichen Anführers Lucky brillierte der damals noch weitgehend unbekannte Nachwuchsschauspieler Niels-Bruno Schmidt, der später in verschiedenen Film- und Fernsehproduktionen Erfolge feiern sollte. Die Einschaltquote der Erstausstrahlung war mit 6,22 Millionen Zuschauern und einem Marktanteil von 27,7 Prozent durchaus beachtlich für eine Sommerausstrahlung.

Bemerkenswert ist, dass der Titelsong von Ben Becker komponiert wurde, der damit eine seiner wenigen Arbeiten als Komponist vorlegte. Die Thematik der „Crash-Kids“ griff ein in den frühen 1990er Jahren aktuelles gesellschaftliches Phänomen auf, das besonders in den neuen Bundesländern für Schlagzeilen sorgte. Jugendliche, die Autos stahlen, um damit riskante Fahrten zu unternehmen, waren Teil einer subkulturellen Erscheinung, die als Symptom für die Orientierungslosigkeit mancher Jugendlicher in der Nachwendezeit gedeutet wurde.

Kritiker bewerteten den Tatort allerdings durchwachsen – während einige die realistische Darstellung der Jugendproblematik lobten, bemängelten andere die eher konventionelle Umsetzung des brisanten Themas. Nach der Ausstrahlung kursierten Diskussionen darüber, ob der Film das Phänomen der Crash-Kids verharmlose oder gar glorifiziere – eine Debatte, die die generelle Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Fernsehkrimis aufwarf.

Besetzung

Hauptkommissar Bruno Ehrlicher – Peter Sodann
Assistent Kain – Bernd Michael Lade
Marco – Sebastian Recznicek
Falco – Oliver Bröcker
Ollenberg – Winfried Glatzeder
Frau Wille – Renate Krößner
Tankwart – Reinhard Scheunemann
Beamter – Rainer Lott
Katja Hasek – Lenka Jelinkova
Jiri Hasek – Petr Svarowsky
Dana – Dana Moravkova
Lucky – Niels Bruno Schmidt
Gaby – Sandra Lindner
Frau Kozelek – Heidrun Perdelwitz

Stab

Drehbuch – Bernd Anger, Bernd Sad
Regie – Bernd Böhlich
Kamera – Gero Steffen
Musik – Andy Goldner

Bilder: MDR/WDR/H.-J. Pfeiffer