Tatort Folge 676: Unter uns

Kurz und knapp – darum geht’s

Nach stundenlangem Warten im Frankfurter Job-Center verliert der arbeitslose Klempnermeister Wolfgang Kunert die Nerven, erschießt einen Mitarbeiter und flüchtet mit seiner Arbeitsvermittlerin als Geisel. Parallel behauptet die achtjährige Ronja, ein verstecktes Kind in einer Nachbarwohnung gesehen zu haben – doch niemand schenkt ihr Glauben. Als Kommissarin Charlotte Sänger und ihr Kollege Fritz Dellwo endlich den Hinweisen des Mädchens nachgehen, entdecken sie ein Verbrechen, das in seiner Grausamkeit alles übersteigt, was die erfahrenen Ermittler je gesehen haben…

Inhalt der Tatort-Folge „Unter uns“

Mit geschlossenen Augen sitzt Kommissarin Charlotte Sänger auf dem Boden ihrer Wohnung, während die melancholischen Klänge eines Gospelsongs den Raum erfüllen. Die Meditation soll ihr helfen, den Alltag zu bewältigen, doch an diesem Tag wird ihr kein innerer Frieden vergönnt sein. In den überfüllten Wartesälen des Frankfurter Job-Centers herrscht derweil eine Atmosphäre aus Resignation und unterdrückter Wut. Die flackernden Neonröhren werfen ein unbarmherziges Licht auf die wartenden Menschen, deren Gesichter von Hoffnungslosigkeit gezeichnet sind.

Wolfgang Kunert wartet seit vier Stunden. Der einstige Handwerksmeister mit eigenem Betrieb hat alles verloren – seine Firma, sein Selbstwertgefühl, seine Ehe. Als ihm Arbeitsvermittlerin Heidi Ganz keine Perspektive bieten kann, zerbricht etwas in ihm. „Für Leute wie Sie gibt es keine Chance mehr“, sagt sie mit bürokratischer Kälte. Augenblicke später liegt ein Mensch blutend am Boden, während Kunert mit einer Geisel auf der Flucht ist.

Für die Kommissare Sänger und Dellwo beginnt eine mühsame Suche, die der Jagd nach einem Phantom gleicht. Fritz Dellwo, dessen raue Schale einen verletzlichen Kern verbirgt, treibt der Fall sichtlich um. Die Ortung von Kunerts Handy führt die Ermittler nur zu einem leeren Auto – vom Geiselnehmer und seinem Opfer fehlt jede Spur. Wie graue Schatten huschen die Beamten durch die herbstliche Kälte Frankfurts, während sich am Himmel dunkle Wolken zusammenbrauen.

In Sängers Nachbarschaft zieht unterdessen die kleine Ronja mit ihrer Mutter ein. Das aufgeweckte Mädchen sucht verzweifelt nach Spielkameraden und behauptet schließlich, hinter einer abgeklebten Fensterscheibe ein anderes Kind gesehen zu haben. Doch in der Wohnung gegenüber soll laut Aussage der Bewohner kein Kind leben. „Da ist niemand“, schnauzt die Frau das Mädchen an und knallt die Tür zu. Während alle Aufmerksamkeit dem flüchtigen Kunert gilt, der inzwischen seine eigene Frau aufgesucht hat, gerät Ronjas verstörende Beobachtung zunächst in Vergessenheit.

Erst als der verzweifelte Geiselnehmer im Frankfurter Palmengarten ein dramatisches Ende findet, wendet sich Charlotte Sänger, von einer dunklen Vorahnung getrieben, dem zweiten Rätsel zu. Was sie hinter der zugeklebten Fensterscheibe der Familie Winterberg entdeckt, erschüttert selbst die hartgesottene Kommissarin bis ins Mark: Ein abgemagertes Kind kauert im Halbdunkel auf dem Boden, umgeben von einem Wald aus Tapetenfetzen und eigenen Haaren, die es in seiner Verzweiflung gegessen hat…

Hinter den Kulissen

Der am 14. Oktober 2007 im Ersten ausgestrahlte Tatort „Unter uns“ ist der zehnte Fall des Frankfurter Ermittlerduos Sänger und Dellwo. Die vom Hessischen Rundfunk produzierte Folge entstand unter der Regie der renommierten Filmemacherin Margarethe von Trotta, für die dies der einzige Beitrag zur Tatort-Reihe blieb. Gedreht wurde vorwiegend in Frankfurt am Main im Frühjahr 2007.

In den Hauptrollen brillieren Andrea Sawatzki als sensible Kommissarin Charlotte Sänger und Jörg Schüttauf als ihr bodenständiger Kollege Fritz Dellwo. Die Besetzung wird komplettiert durch den ehemaligen „Tatort“-Kommissar Stefan Jürgens als verwahrlosten Familienvater André Winterberg, Michael Brandner als verzweifelten Geiselnehmer Wolfgang Kunert und Lena Stolze in der Rolle der Arbeitsvermittlerin Heidi Ganz.

Das von Kathrin Bühlig verfasste Drehbuch verbindet virtuos zwei sozialkritische Handlungsstränge und wurde von der Kritik für seine ungeschönte Darstellung sozialer Missstände gelobt. Mit über 7,5 Millionen Zuschauern erreichte die Folge einen Marktanteil von 21,3 Prozent und gehört damit zu den erfolgreichsten Fällen des Frankfurter Teams. Bemerkenswert ist die Verwendung des Gospelsongs „Sometimes I Feel Like a Motherless Child“ in der Version von Odetta, der als musikalische Klammer den Film einrahmt.

Nach der Ausstrahlung wurde viel über die Parallelen zum realen „Fall Jessica“ diskutiert, bei dem ein Kind in Hamburg von seinen Eltern verhungern gelassen wurde. Margarethe von Trottas filmische Umsetzung, insbesondere die poetische Bildsprache und die intensive Darstellung menschlicher Abgründe, wurde von Kritikern als beeindruckender Grenzgang zwischen Sozialdrama und klassischem Krimi gewürdigt.

Videos zur Produktion

ARD Plus Trailer

Besetzung

Kommissarin Charlotte Sänger – Andrea Sawatzki
Kommissar Fritz Dellwo – Jörg Schüttauf
Dr. Scheer, Staatsanwalt – Thomas Balou Martin
Jan Gröner, Kriminalassistent – Sascha Göpel
Ina Springstub, Kriminalassistentin – Chrissy Schulz
Christiane von Basedow – Iris Böhm
Karin Kunert – Franziska Walser
Wolfgang Kunert – Michael Brandner
Bea Bubitz – Ulrike Krumbiegel
Heide Ganz – Lena Stolze
André Winterberg – Stefan Jürgens
Ines Winterberg – Susanne-Marie Wrage
Servicetechniker – Martin Bross
Ronja Kubitz – Charlotte Lüder
Wirtin in Dellwos Stammkneipe – Maria Happel
Ärztin – Therese Affolter
Filialleiter Bank – Pascal Ulli
Gerlinde Nickel – Traute Hoess
Eva, Dellwos Freundin – Sascha Ö. Soydan
Rudi Fromm, Leiter Mordkommission – Peter Lerchbaumer
Bankangestellte – Anna von Berg
u.a.

Stab

Buch – Katrin Bühlig
Regie – Margarethe von Trotta
Ton – Michael Busch
Kamera – Axel Block
Requisite – Susan Grünefeldt
Szenenbild – Börries Hahn-Hoffmann
Maske – Gabi Große Keul
Kostüme – Katharina Schnelting
Schnitt – Elke Herbener
Produktionsleitung – Uli Dautel

Bilder – HR/Bettina Müller

19 Kommentare

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  1. vor 18 Jahren

    Wir waren durch das Thema sehr aufgewühlt. Hoffentlich hat der Film einige die es betrifft, erreicht. Vieleicht kann man uns noch die Sängerin nennen von dem Lied “ Sometimes i fell like a motherless child „. Danke !


  2. Ende der Erstausstrahlung

  3. Tom
    vor 17 Jahren

    Einer der besten „Tatorte“, die ich je gesehen habe. Und das waren schon einige in den letzten 15 Jahren…

    Die Fälle verhungerter Kinder in Deutschland – mitten unter uns! – die kurz nach Ausstrahlung dieses Films ans Tageslicht kamen, zeigen, dass das Drehbuch von „Unter uns“ keine Sekunde lang „überfrachtet“ oder „an den Haaren herbeigezogen“ war, wie es einige selbsternannte „Kritiker“ unmittelbar nach der Sendung geschrieben haben. Die Schilderung des fast verhungerten Mädchens und der familiären Umstände drumherum war extrem realitätsnah, und die schauspielerische Umsetzung durch Sawatzki und Schüttauf – gerade auch was die Erschütterung betrifft – war spitzenklasse.

    Dieser „Tatort“-Folge müsste man mitsamt ihren Darstellern einen Medienpreis verleihen.

  4. vor 17 Jahren

    Hallo!
    Dieser Tatort war wirklich sehr gut.
    Vielleicht könnten Sie mir die Sängerin nennen von dem Lied ” Sometimes i fell like a motherless child “. Danke !
    Bianca Neve

  5. vor 15 Jahren

    Leider wahr diese Sendung nicht zu sehen wegen keine ORF2-Europe Rechte via Astra?! Das ist doch blöd!

  6. vor 13 Jahren

    Spannend, interessant und bewegend. Ein Tatort Highlight der letzten zehn Jahre.
    Das Ermittlerduo Dellwo/Sänger war für mich das beste Team des letzten Jahrzehnts.

    Die Trauer und die Tränen von „Frau Sänger“ zum Schluss des Filmes, sind so
    realitätsnah, dass man fast mitweinen möchte.

  7. vor 12 Jahren

    Dieser Tatort ergreift mich jedes mal wieder. Am liebsten würde Ich sagen „geht rein ,da ist ein Kind ,was Hilfe braucht ! warum klaubt ihr dem Mädchen denn nicht !“ aber es ist ja nur ein Film !?
    Obwohl die Realität oft sehr nah ist in dieser heutigen Zeit . Wir müssen alle unsere Augen und Ohren offen halten !!!

  8. vor 12 Jahren

    Natürlich 5 Sterne !

  9. vor 12 Jahren

    Sehr guter Tatort…nah an der Wirklichkeit. In dieser heutigen Zeit wird es wohl noch viele verschwundene Kinder und alte Menschen geben. Wir sollten alle mehr die Augen und Ohren offen halten.

  10. vor 11 Jahren

    Dieser Tatort war so nah an der Realität, dass er mich heut noch immer bewegt. Grandiose Schauspielerleistungen. Würde mich wünschen, dass er mal wiederholt wird.

  11. vor 11 Jahren

    Meine damalige Freundin (heute ist sie meine Frau) spielt als Polizistin mit. Sie nimmt am Ende die Jungs fest.

  12. vor 10 Jahren

    Ich kann mich noch erinnern, als ich vor ein paar Jahren eine Wiederholung des Filmes geschaut habe und er mich sehr aufgewühlt hat. Jetzt suche ich verzweifelt nach einer Seite auf der ich den „Tatort“ noch einmal anschauen kann – finde aber leider nichts.

  13. vor 10 Jahren

    Diese Folge lief zum letzten Mal am 12.11.2013 auf SWR. Mit Glück kann ich sie von OTR (OnlineTVRecorder.com) bekommen. Leider nicht mehr in HD- oder HQ-Qualität.

  14. vor 10 Jahren

    diese zwei kommissare waren für mich die besten, ich vermisse sie so. können sänger + dellwo nicht wieder eingesetzt werden? so zurückkehren aus ihrem gemeinsamen urlaub? das wäre so cool.

  15. vor 9 Jahren

    Der Tatort mit der Nummer 676 aus Frankfurt. Die beiden Hauptkommissare Sänger (w) und Dellwo (m) haben alles Hände voll zu tun, in diesem schon klassischen und packenden Tatort-Drama, in dem sie an zwei verschiedenen aufrüttelnden Fällen zu ermitteln haben. Es ist einer der Tatort-Spielfilm der beiden Mordermittler, welcher mich persönlich am meisten mitgenommen hat. Ein tragischer Kriminal- und Polizeispielfilm aus dem Jahre 2007 mit einer hervorragenden schauspielerischen Leistung.

  16. sab
    vor 7 Jahren

    Für mich der beste Tatort, den ich je gesehen habe – warum ? Ganz einfach : noch nie hat mich ein Tatort zum Weinen gebracht. Ein Drama im Zenit der emotionalen Intelligenz. Von wegen Sozialstaat und das System sei schuld.
    Wir alle sind das System. Der sogenannte Sozialstaat war schon vor zehn Jahren durch die rotgrüne Abrisskeule ruiniert. Und wir alle haben es geschehen lassen. Jetzt, zehn Jahre nach der Erstausstrahlung ,sitzt die AFD im Parlament. Mir fehlt in den aktuellen Drehbüchern die sozialkritische Tiefe. Deshalb interessieren mich die neuen einfach nicht mehr. Sie sind platt politisch korrekt, vor allem wenn irgendwelche Flüchtlingsthemen verwurstet werden. Ich will aber nicht erzogen, sondern berührt werden. Denken kann ich alleine.

  17. vor 5 Jahren

    There are two stories. The main story is rather weak – a man running amok – but it gets overtaken by a side story that is really strong. Director Margarethe von Trotta uses Sänger’s face to show us the most emotional scenes. Great stuff.
    I wonder why is the Frankfurter Präsidium so high tech (video wall, computer room etc) compared to all the others?
    And is this real film or grainy video made to look like film?

  18. WW
    vor 4 Jahren

    Zwei Geschichten, die nichts miteinander zu tun haben. Erstens der verzweifelte Amoklauf eines Arbeitslosen, spannungsarm und zäh. Es ist berechtigte Kritik am Umgang mit Arbeitslosen, aber als Geschichte schwach inszeniert.
    Währenddessen entwickelt sich eine andere dramatische Geschichte, die erst im letzten Drittel des Films Fahrt aufnimmt. Die Geschichte des Mädchens, die schockiert, aber leider etwas knapp und simpel gestrickt wurde. Hier wäre mehr Spannung und erzählerische Dichte möglich gewesen. Und aufwändiger inszeniert hätte diese Geschichte den Tatort allein tragen können. Warum sie nur nebenbei läuft, ist mir unklar.

  19. vor 4 Jahren

    Zwei tragische Geschichten in einem Film, jede für sich gesehen durchaus bewegend und gesellschaftskritisch anklagend.

    Als Kriminalfilm aber leider ohne jeglichen Drive. Zuviel gewollt. Wenig Spannung.

  20. vor 4 Jahren

    Klasse TO mit Fritz und Charlotte!!!

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