Kurz und knapp – darum geht’s

Nur wenige Wochen vor seiner regulären Entlassung nutzt der Häftling Dieter Brodschella eine Arbeitsgelegenheit außerhalb des Gefängnisses zur Flucht – angetrieben von einem unbändigen Verlangen nach Rache. Sein Ziel: Werner Kresch, der mächtige „König von Niederau“, auf dessen Grundstück Brodschellas Freundin einst tot aufgefunden wurde. Kommissar Finke wird in das abgelegene schleswig-holsteinische Dorf geschickt, um den Flüchtigen zu fassen und gleichzeitig den gefährdeten Kresch zu schützen – ein fast unmögliches Unterfangen in einem Ort, wo alle miteinander verwandt sind und schweigen. Als Finke beginnt, in den dunklen Geheimnissen des Dorfes zu graben, gerät er selbst zwischen die Fronten eines tödlichen Konflikts…

Inhalt der Tatort-Folge „Jagdrevier“

Nebel kriecht über das Moor, während Dieter „Ditsche“ Brodschella den Moment der Unachtsamkeit seiner Wärter beim Torfstechen nutzt und in die Freiheit flieht. Die karge, windgepeitschte Landschaft Schleswig-Holsteins mit ihren verlassenen Kiesgruben, alten Scheunen und verfallenen Höfen wird sein Versteck und zugleich sein Jagdrevier.

Kommissar Finke, ein Mann mit ruhiger Stimme und scharfem Verstand, trifft in Niederau ein – ein Dorf, das unter der Knute des Immobilienbesitzers Werner Kresch steht. Finke bezieht Quartier in der einzigen Gastwirtschaft des Ortes, ausgerechnet bei Brodschellas Schwester Ina und ihrem Mann. Von Anfang an spürt der Kommissar die Mauer des Schweigens, die sich vor ihm aufbaut. „Sie werden bei den Leuten hier, schätze ich, wenig Hilfe finden. Also wir sind hier eigentlich alle irgendwie miteinander verwandt“, erklärt ihm der örtliche Polizist Heise – selbst Stiefschwager des Gesuchten.

Finkes beharrliche Art und sein untrügliches Gespür für Ungerechtigkeiten lassen ihn nicht ruhen. Was auf den ersten Blick wie ein einfacher Fall eines flüchtigen Häftlings wirkt, entpuppt sich als komplex verwobenes Netz aus Verdächtigungen, Vergeltung und Vertuschung. Die Jagd nach Brodschella gleicht dem Versuch, einen Fisch mit bloßen Händen im trüben Wasser zu fangen – immer wieder entgleitet er Finke in letzter Sekunde.

In der stickigen Enge des Dorfes, wo jedes Wort gewogen und jeder Fremde misstrauisch beäugt wird, erfährt Finke von verstörenden Vorfällen: Eine alte Frau nahm sich das Leben, nachdem Kresch ihre Miete drastisch erhöht hatte. Die 15-jährige Heike wurde im Haus des mächtigen Grundbesitzers vergewaltigt – offiziell durch einen Landstreicher, doch das Dorf munkelt anderes.

„‚Sie verwechseln vielleicht ganz einfach die Personen'“, wirft Finkes Vorgesetzter Oberrat Mertens ihm vor und versucht, ihn zur Konzentration auf den eigentlichen Auftrag zu bewegen. Doch der eigensinnige Kommissar kann die Zusammenhänge nicht ignorieren. Während Brodschella von seinen Freunden Molli, dem taubstummen Szenka und Pitti, der Schwester seiner toten Freundin, mit Nahrung und Waffen versorgt wird, verfolgt er unbeirrbar seinen Racheplan.

Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Flüchtigen und dem Kommissar erreicht seinen Höhepunkt, als Finke bei der Verfolgung Brodschellas in einer Kiesgrube verschüttet wird – und ausgerechnet der Gejagte ihm das Leben rettet. Ein paradoxes Band der gegenseitigen Schuld verbindet fortan die beiden Männer.

Kresch, der nicht länger auf den Schutz der Polizei vertrauen will, bewaffnet sich selbst und beginnt, nach Brodschella zu suchen. In der bedrückenden Atmosphäre des Dorfes, wo die schwarz-weißen Moralvorstellungen der Obrigkeit auf die schattenhaften Grautöne der Dorfgemeinschaft treffen, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Als Kresch und Brodschella in einer alten Scheune aufeinandertreffen, fliegen die Kugeln – mit unvorhergesehenen Folgen für alle Beteiligten…

Hinter den Kulissen

Der Tatort „Jagdrevier“ wurde 1973 unter der Regie des späteren Hollywood-Regisseurs Wolfgang Petersen gedreht, der mit Filmen wie „Das Boot“ und „Air Force One“ internationale Bekanntheit erlangen sollte. Die atmosphärisch dichten Aufnahmen entstanden hauptsächlich im Ortskern und der Umgebung der Gemeinde Wohlde in der Landschaft Stapelholm im äußersten Südwesten des Kreises Schleswig-Flensburg in Schleswig-Holstein. Die heutige Muhls Gaststätte diente als Drehort für den dörflichen Gasthof. Für die eindrucksvollen Szenen in der verlassenen Kiesgrube wählte das Produktionsteam ein Gelände am Waldweg westlich von Bergenhusen. Das imposante Anwesen des Immobilienspekulanten Kresch wurde hingegen in einer Villa am Ortsrand von Nindorf in der Gemeinde Hanstedt im Landkreis Harburg (Niedersachsen) gefilmt.

In dieser 29. Folge der Tatort-Reihe verkörperte Klaus Schwarzkopf zum dritten Mal den klugen und beharrlichen Kommissar Finke. An seiner Seite brillierte der damals noch junge Jürgen Prochnow als flüchtiger Häftling Dieter Brodschella, der später durch seine Rolle als U-Boot-Kommandant in Wolfgang Petersens „Das Boot“ weltberühmt wurde.

Eine besondere Kuriosität der Folge ist der Gastauftritt von Kommissar Kressin – allerdings nicht als tatsächliche Figur im Film, sondern als Tatort-Folge im Tatort: Die Dorfbewohner und Finke schauen gemeinsam die Episode „Kressin und die Frau des Malers“ im Fernsehen der Dorfschenke an.

Die Erstausstrahlung des Tatorts „Jagdrevier“ am 13. Mai 1973 im Ersten etablierte die noch junge Krimireihe weiter im Bewusstsein der deutschen Fernsehzuschauer. Die intensive Auseinandersetzung mit den sozialen Spannungen auf dem Land und die ambivalente Darstellung von Recht und Gerechtigkeit machten den Film zu einem der bemerkenswerten frühen Tatort-Episoden, die auch über 50 Jahre später noch das Publikum fesseln.

Besetzung

Kommissar Finke – Klaus Schwarzkopf
Jessner – Wolf Roth
Kresch – Walter Buschhoff
Dieter Brodschella – Jürgen Prochnow
Ina Lenz – Vera Gruber
Heise – Uwe Dallmeier
Heinz – Karl-Heinz von Hassel
Mertens – Werner Nippen

Stab

Drehbuch – Herbert Lichtenfeld
Regie – Wolfgang Petersen
Kamera – Nils-Peter Mahlau
Musik – Nils Sustrate

Bilder: NDR/Sachse