Kurz und knapp – darum geht’s
Eine 19-jährige Migrantentochter stürzt aus dem achten Stock eines Hamburger Hochhauses in den Tod – war es Mord oder Selbstmord? Hauptkommissarin Lea Sommer, gerade erst nach Hamburg versetzt, nimmt die Ermittlungen auf und stößt auf ein Netz aus Lügen und gefährlichen Abhängigkeiten. Im Zentrum steht der charismatische Psychotherapeut Dr. Thoma, dessen fragwürdige Behandlungsmethoden weit über professionelle Grenzen hinausgehen. Als die Ermittlerin entdeckt, dass der Therapeut mehrere verstörende Beziehungen zu seinen Patientinnen unterhält, gerät sie selbst in den Sog seiner manipulativen Anziehungskraft und in ein tödliches Dreiecksverhältnis…
Inhalt der Tatort-Folge „Gefährliche Übertragung“
Noch aus Umzugskartons lebend, wird Hauptkommissarin Lea Sommer mitten in der Nacht zu ihrem ersten Fall in der Hansestadt gerufen. Der Hamburger Himmel hängt schwer und grau, als sie am Fuße eines der Grindelhochhäuser eintrifft, wo die 19-jährige Marcia Nasovicz leblos auf dem Asphalt liegt. Die frühmorgendliche Stille wird nur vom Rauschen der Windböen und dem geschäftigen Treiben der Spurensicherung durchbrochen.
„Den Sprung aus dem achten Stock hat sie nicht überlebt“, erklärt ihr Assistent Udo Verhoff nüchtern. Hämatome am Körper des Opfers deuten auf äußere Gewalteinwirkung hin – doch wurden sie vor oder nach dem tödlichen Sturz zugefügt?
Lea Sommer wirkt unnahbar, fast kühl in ihrer Professionalität, während sie die ersten Befragungen führt. Doch hinter der Fassade verbirgt sich eine sensible Frau, deren Instinkt sie selten täuscht. Als sie die Familie des Opfers aufsucht, offenbart sich ein Mikrokosmos kultureller Zerrissenheit: Der muslimische Vater, ein herrischer Mann mit harten Gesichtszügen, spricht voller Verachtung von seiner Tochter, die „Schande über die Familie gebracht“ habe. Die katholische Mutter hingegen, eine Kroatin, verteidigt ihre verstorbene Tochter unter Tränen.
„Haben Sie Ihre Tochter geschlagen?“, fragt Sommer den Vater direkt. Sein ausweichender Blick sagt mehr als tausend Worte.
Marcias jüngere Schwester Leila, ein scheues Mädchen mit wachsamen Augen, folgt Sommer heimlich und vertraut ihr an, dass ihre Schwester an Bulimie litt und bei Dr. Gerhard Thoma in Behandlung war. Der Therapeut bewegt sich wie ein eleganter Raubvogel durch seine geschmackvoll eingerichtete Praxis, als Sommer ihn aufsucht. Seine Worte fließen weich wie Samt, während er von Marcias Behandlung erzählt.
„Im Moment wäre mir wichtig, was eine so schöne Frau veranlasst hat, ihr Leben mit Mord und Todschlag zu verbringen“, lenkt er das Gespräch plötzlich auf Sommer selbst. Die Kommissarin, die sich von seinem Charme wider besseres Wissen angezogen fühlt, lässt sich auf ein psychologisches Katz-und-Maus-Spiel ein.
Das nächste Puzzlestück liefert eine aufmerksame Nachbarin aus dem Hochhaus: Marcia sei regelmäßig in eine Wohnung im selben Gebäude gegangen – eine Wohnung, die Dr. Thoma angemietet hat. Die Ermittlung gleicht einem Labyrinth aus Spiegel, in dem nichts ist, wie es scheint. Als Sommer Zugang zu Marcias Tagebuch erhält, verdichtet sich der Verdacht: Der Therapeut unterhielt offenbar intime Beziehungen zu mehreren seiner Patientinnen, darunter auch zur labilen Laura Hammerstein.
Wie in einem dunklen Ballett kreuzen sich die Wege der Beteiligten: Die wohlhabende Modeschöpferin Theresa Moiser, die Laura beschützen will; Thomas entfremdete Ehefrau, die gleichgültig erscheint; und immer wieder Laura selbst, deren zerbrechliche Gestalt wie ein Schatten durch die Ermittlungen huscht. Die nächtliche Skyline Hamburgs spiegelt sich in den Pfützen am Boden, als Sommer zu einem schicksalhaften Rendezvous mit Dr. Thoma aufbricht.
Was als Verhaftung des manipulativen Therapeuten endet, ist jedoch erst der Anfang einer dramatischen Wendung. Am nächsten Morgen wird Thoma tot aufgefunden – erstochen mit einer Schere. Der Fall verwandelt sich in ein tödliches Kaleidoskop aus Eifersucht, Rache und verzweifelter Liebe. Sommers Beharrlichkeit führt sie schließlich zur Wahrheit: Es war Leila, Marcias Schwester, die in einem Moment blinder Wut zum Mordinstrument griff, um ihre Schwester zu rächen.
Hinter den Kulissen
„Gefährliche Übertragung“ wurde als 355. Folge der Tatort-Reihe am 31. März 1997 erstmals im Ersten ausgestrahlt und stellt einen besonderen Fall in der Geschichte der Krimireihe dar: Hannelore Elsner, die von 1994 bis 2006 in der eigenständigen Vorabendserie „Die Kommissarin“ die Frankfurter Ermittlerin Lea Sommer verkörperte, wurde für zwei Sonderfolgen nach Hamburg versetzt und in die Tatort-Familie integriert.
Die Dreharbeiten fanden komplett in Hamburg statt, wobei besonders die imposanten Grindelhochhäuser als charakteristisches Setting dienten. Neben Elsner in der Hauptrolle glänzte ein namhaftes Ensemble: Hansa Czypionka verkörperte den zwielichtigen Dr. Thoma mit verführerischer Ambivalenz, während Andreas Herder als Kommissar Udo Verhoff Sommers Assistenten spielte – eine Rolle, die in der Originalserie bis 1996 von Til Schweiger ausgefüllt worden war.
Besonders bemerkenswert war die starke weibliche Besetzung des Films: Barbara Rudnik als selbstbewusste Modeschöpferin Theresa Moiser, Anna Thalbach als fragile Laura Hammerstein, Sophie Steiner als die zwischen Traditionen zerrissene Leila und Adriana Altaras als trauernde Mutter bildeten ein vielschichtiges Ensemble, das dem Film seinen besonderen Charakter verlieh.
Bei ihrer Erstausstrahlung erreichte die Folge 6,63 Millionen Zuschauer und einen Marktanteil von 20,70 Prozent – ein respektables Ergebnis, obwohl die ungewöhnliche Konstruktion der Episode für Verwirrung sorgte. Einige Kritiker bemängelten die fehlerhafte Einbindung des Vorspanns der Originalserie und Brüche in der Dramaturgie. Selbst Hauptdarstellerin Hannelore Elsner äußerte öffentlich ihr Unbehagen darüber, erst durch eine Presseankündigung von dieser Übernahme ihrer Figur in die Hauptabendreihe erfahren zu haben.
Nach dieser und einer weiteren Tatort-Folge („Alptraum“) kehrte Lea Sommer 1999 wieder in ihr angestammtes Format als 48-minütige Vorabend-Kommissarin zurück. Hannelore Elsner, die 2019 verstarb, bleibt mit dieser kurzen, aber denkwürdigen Episode als eine der wenigen Ermittlerinnen in Erinnerung, die zwischen den Krimi-Welten des deutschen Fernsehens wechseln durften.
Besetzung
Hauptkommissarin Lea Sommer – Hannelore Elsner
Dr. Gerhard Thoma – Hansa Czypionka
Laura Hammerstein – Anna Thalbach
Theresa Moiser – Barbara Rudnik
Udo Verhoff – Andreas Herder
Sanela Nasovicz – Sophie Steiner
u.a.
Stab
Drehbuch – Eva-Maria Mieke
Regie – Petra Haffter
Kamera – David Slama
Schnitt – Barbara von Weitershausen
Musik – Stefan Warmuth
Produktion – NDR
Der Tatort mit der Nummer 355 aus der schönen Hansestadt Hamburg. Die Hauptkommissarin Sommer ermittelt in ihrem ersten Einsatz für die Mordkommission, lediglich ein zweiter wird folgen. Zusammen mit ihrem Assistenten, Kommissar Verhoff, wird der Tötungsfall einer jungen Frau untersucht und im Verlauf dieser Untersuchung geschieht ein Mord, blutig und gezielt ausgeführt. Ein packendes Tatort-Beziehungsdrama mit einem hervorragenden kriminalistischen Team. Die Hauptkommissarin Sommer muss sich durch ein Geflecht aus verwandtschaftlichen Schweigens und Vertuschungen hindurch schlagen und bleibt letztlich eine leise und zurückhaltende Siegerin in diesem erschütternden und sehenswerten Tatort-Krimi.
Wenn man sich für ein Lea Sommer Tatort entscheidet, dann ganz klar für *Gefährliche Übertragung*. Der erste Fall für Hannelore Elsner als Kommissarin ist eindeutig spannender als ihr zweiter Einsatz. Einfach spannend bis zum Schluss. Auch Hansa Czypionka weiß zu überzeugen. Klasse Tatort Unterhaltung aus den 90er Jahren. Wenn er Mal läuft dann unbedingt einschalten.
@MadMonley: Dann greife ich heute Ihren Vorschlag auf. Diese Folge wird offenbar selten gespielt. Ich hab sie – meiner Erinnerung nach – zur Erstausstrahlung das letzte Mal gesehen …
Sehr guter klassischer TO.
HE war zu dieser Zeit eine wirklich charismatische, sympathische Schauspielerin. Ihre ‚Spaetfilme‘ – als ‚Diva‘, etc. – ueberzeugten mich weniger.
Ein Tatort – Spielfilm aus Hamburg mit der Nummer 355 und aus dem Jahr 1997. Der ist und bleibt gut.
Die Meinung vom 20.04.2016 halte ich.