Kurz und knapp – darum geht’s
Ein heißer Sommertag in Leipzig endet für den jungen Leo Stein tödlich: Der 23-jährige Mann mit Down-Syndrom wird leblos im Schwimmbecken eines Freibades aufgefunden. Die Kommissare Ehrlicher und Kain stellen schnell fest, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Ertrinkungsunfall handelt – jemand muss Leo unter Wasser gedrückt haben. Die anfänglichen Spuren führen zu einer Jugendbande, deren Anführer Ralf Salchow durch Leo belastet werden sollte. Als die Ermittler jedoch tiefer graben, bröckelt die Fassade der scheinbar perfekten Familie Stein und düstere Geheimnisse aus der DDR-Vergangenheit kommen ans Licht…
Inhalt der Tatort-Folge „Freischwimmer“
Schwüle Hitze liegt über Leipzig, als die Sirenen der Polizeiwagen das fröhliche Stimmengewirr im Freibad durchbrechen. Hauptkommissar Bruno Ehrlicher wischt sich den Schweiß von der Stirn, während sein Kollege Kain den Tatort sichert: Ein junger Mann mit Down-Syndrom liegt leblos auf den weißen Fliesen neben dem Becken, Wasserlachen sammeln sich unter seinem reglosen Körper. Der Bademeister Lutz Baader steht wie versteinert daneben. „Ich hab‘ ihn aus dem Wasser gezogen“, sagt er mit brüchiger Stimme, „aber da war nichts mehr zu machen.“
Das Opfer Leo Stein war ein ausgezeichneter Schwimmer, trotz seines Down-Syndroms und seiner Diabetes-Erkrankung. Im überfüllten Freibad will niemand etwas bemerkt haben – ein Umstand, der Ehrlicher misstrauisch macht. „Das Schweigen der Badegäste ist wie eine undurchdringliche Mauer“, bemerkt er zu Kain, während sie die ersten Zeugen befragen.
Leos Mutter Bettina Stein ist Stadträtin in Leipzig, mitten im Wahlkampf. Ihre politischen Plakate zeigen das Bild einer perfekten Familie, doch die Realität sieht anders aus. Der Vater Martin Stein, ein Lehrer, wurde kürzlich beurlaubt – die Schüler tanzten ihm auf der Nase herum, wie sein Direktor den Kommissaren verrät. „Der Mann ist am Ende seiner Kräfte“, sagt er mit gedämpfter Stimme. Alexandras Augen flackern nervös, als Kain sie nach ihrem Bruder befragt. Sie war im Freibad, als es passierte, hatte sich aber mit ihrem Freund Mike hinter die Umkleidekabinen zurückgezogen.
Die Spur führt zunächst zu Ralf Salchow und seiner Clique. „Die haben die Behinderten immer terrorisiert“, erklärt Bettina Stein mit zitternder Stimme. Leo sollte als Zeuge gegen Salchow aussagen, weil dieser einen autistischen Jungen verprügelt hatte. Der Fall scheint klar – bis die Gerichtsmedizin feststellt, dass Leo kurz vor seinem Tod eine Überdosis Insulin verabreicht wurde. Die Ermittlungen gleichen nun einem Tauchen in trübem Wasser, wo jede Bewegung neue Schlammwolken aufwirbelt und die Sicht noch mehr verschlechtert.
Ehrlicher und Kain stoßen auf eine merkwürdige Verbindung: Lutz Baader, der arbeitslose Bademeister und Vater von Alexandras Freund Mike, war einst ein gefeierter DDR-Olympiaschwimmer – gemeinsam mit Bettina Stein. Sein Gesicht verfinstert sich, als Ehrlicher ihn auf die Vergangenheit anspricht. „Das ist lange her“, murmelt er ausweichend, während seine Hände unruhig mit dem Schlüsselbund spielen.
Die Kommissare beginnen, an der Oberfläche zu kratzen. Darunter kommt eine Geschichte von Eifersucht, Verrat und zerstörten Karrieren zum Vorschein, die wie ein dunkler Schatten über der glitzernden Wasseroberfläche des Freibads liegt. Als Ben, ein autistischer Freund von Leo, mit überraschender Präzision Beobachtungen schildert, die er am Beckenrand gemacht hat, führt eine neue Spur zu einem unerwarteten Verdächtigen…
Hinter den Kulissen
Der Tatort „Freischwimmer“ ist der 18. gemeinsame Fall für die Kommissare Ehrlicher und Kain, dargestellt von Peter Sodann und Bernd Michael Lade. Die Dreharbeiten fanden im Juni 2005 im historischen Schreberbad statt, einem der ältesten Freibäder Leipzigs, das bereits 1866 errichtet wurde.
Ironischerweise musste das Produktionsteam des Mitteldeutschen Rundfunks mit widrigen Wetterbedingungen kämpfen: Bei kühlen 13 Grad Celsius fehlten echte Badegäste, so dass zahlreiche frierende Komparsen engagiert werden mussten, um sommerlichen Badebetrieb zu simulieren. Die Darsteller, die in Badesachen auftreten mussten, kämpften tapfer gegen die Kälte an – ein Umstand, der der schwülen Atmosphäre, die der Film vermittelt, nicht anzumerken ist.
In den Hauptrollen brillierten neben dem Ermittlerduo Julia Jäger als Stadträtin Bettina Stein und August Zirner als ihr Ehemann Martin. Die Rolle des Lutz Baader übernahm Peter Schneider, der mit seiner Darstellung des verbitterten Ex-Olympioniken besonders überzeugen konnte.
Bei seiner Erstausstrahlung am 30. Oktober 2005 erreichte „Freischwimmer“ 8,19 Millionen Zuschauer und einen Marktanteil von 22,90 Prozent. Die Kritik lobte besonders die sensible Darstellung des Themas Behinderung und die vielschichtige Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen der DDR-Vergangenheit im wiedervereinigten Deutschland.
Nach der Ausstrahlung entwickelte sich eine gesellschaftliche Diskussion über die Integration von Menschen mit Behinderung, die durch den Film angestoßen wurde. Der MDR griff das Thema später in einer Sondersendung auf und beleuchtete die reale Situation von Menschen mit Down-Syndrom in der deutschen Gesellschaft.
Besetzung
Hauptkommissar Ehrlicher – Peter Sodann
Hauptkommissar Kain – Bernd Michael Lade
Martin Stein – August Zirner
Lade Bettina Stein – Julia Jäger
Alexandra Stein – Karoline Teska
Mike Baader – Marcel Goldammer
Lutz Baader – Arved Birnbaum
Sibylle Kramer – Svea Timander
Techniker Walter – Walter Nickel
Ralf Salchow – Florian Bartholomäi
Frederike – Annekathrin Bürger
Stab
Regie – Helmut Metzger
Buch – Mario Giordano und Andreas Schlüter
Musik – Mick Baumeister
Kamera – Peter Nix
Bilder: MDR/Hardy Spitz
Wann war die Erstausstrahlung und wieviel Mio Zuschauer?
Der Tatort Nummer 612 aus Leipzig mit den beiden Kommissaren der dortigen Mordkommission Ehrlicher und Kain. Eine ostdeutsche Vorzeigefamilie zeigt Risse auf und mein Fernsehbildschirm fast ebenfalls, wenn ich nicht rechtzeitig umgeschaltet hätte. Es gibt Filme die kann man gucken, aber man muß sie nicht gucken. Und dann gibt es Fernsehfilme wie diesen.
Der Krimi ist ein typisches Produkt des postkommunistischen Fernsehens. Da gibt es eine Gruppe glücklicher geistig Behinderter mit ihrer sympathischen Betreuerin. Ferner eine Rotte rechtsradikaler junger Männer, deren Hauptanliegen Terror und Krawall sind und die es bevorzugt auf Behinderte abgesehen haben. Und da fehlt auch nicht die kaputte bürgerliche Familie, die ihren Anschein von „heiler Welt“ natürlich nicht aufrecht halten kann. Dieser rote Sud wäre unvollständig, wenn nicht letztlich der „böse“ Kapitalismus, also der „böse“ Westen, also die „böse“ Wiedervereinigung an allem schuld wären. Der politische Ehrgeiz der Mutter zerstört die Familie, nur der zu Tode kommende geistig behinderte Sohn ist für alle ein Lichtblick. Und der Vater des Häuptlings der rechten Rotte hat nach seinen sportlichen Erfolgen in der „DDR“ nie so recht Fuß fassen können in der nun westlich geprägten Gesellschaft, verdingt sich als wenig geachteter Bademeister und kann seinem Sohn keinen Halt geben. Zunächst sieht es so aus, als ob seine ehemalige Sportkameradin, die politisierende Mutter, daran schuld sei, da sie ihn kurz vor der Wende aus Eifersucht bei den „DDR“-Funktionären als voraussichtlichen „Republikflüchtling“ denunziert hat. Aber dann zeigt sich, daß sie alles getan hat, um ihm einen neuen Start zu ermöglichen, aber seine Lethargie stets alles zunichte machte. Jetzt will sie dem „Versager“ nicht mehr helfen. Und woher kommt diese Lethargie? Richtig, es ist die unmenschliche kapitalistische Gesellschaft, die solche Leute desorientiert als Strandgut zurückläßt. Das verbrecherische Verhalten der Mutter, Sportgenossin und Denunziantin wird dagegen nicht weiter problematisiert. Ein normaler Mensch würde dieser Frau mit großem Vorbehalt begegnen, nicht so die beiden Kommissare.
Anscheinend beruht das Drehbuch auf dem angeblichen Mord von Rechtsradikalen an einem herzkranken Jungen in Sebnitz (1997), der sich dann als reines Medienereignis erwies, dessen Ursprung in der durchgeknallten Handlungsweise einer westdeutschen Mutter lag. Obwohl Mitglied der örtlichen SPD war sie nie richtig in Sebnitz angekommen und wollte ihr Kind in der Öffentlichkeit unbedingt zum Opfer rechtsradikaler ostdeutscher Jugendlicher stilisieren. Aber zu einer bundesweiten Kampagne wurde das Badeunglück erst durch den begeisterten Einsatz westdeutscher Medien und nicht zuletzt des berüchtigten Kriminologen Pfeiffer, der seiner Parteigenossin ohne genaue Prüfung des Sachverhalts zur Hilfe kam und die Familie erst recht in ihrer obsessiven Voreingenommenheit bestärkte. Bundeskanzler Schröder wurde durch einen Hinweis von Ministerpräsident Biedenkopf gerade noch davor bewahrt, sich mit dieser Frau für die Öffentlichkeit ablichten zu lassen. Als funktionstüchtig erwiesen sich aber die staatlichen Behörden, die ihre Arbeit unter dem ständigen Medienbeschuß korrekt zu Ende führten.
Was macht der Krimi aus diesem Fall, der eigentlich so gar nicht ins antifaschistische Schema paßt? Die Rechtsradikalen kann man zwar als wahre Scheusale charakterisieren, aber sie hatten eben mit einem Mord, der gar nicht stattgefunden hat, auch gar nichts zu tun. Im Film erscheint die Tötung denn auch eher als Zusammentreffen leichtfertiger, aber doch systemisch bedingter Handlungen, woran die Tochter bzw. Schwester der unheilen Familie sowie der ehemalige „DDR“-Sportler beteiligt sind. Das von der Mutter völlig überforderte Mädchen hat ihren Bruder vorübergehend medikamentös ruhig gestellt, und der von dem Behinderten als Versager verspottete Bademeister hat den halb betäubten Jungen versehentlich zu lange unter Wasser gedrückt. Aber der Drehbuchschreiber weiß sich zu helfen. Er läßt die rechten Unholde schnell noch das Behindertenheim anzünden, die Täterschaft einem abtrünnigen Mitglied anhängen und die ehemals glücklichen geistig behinderten Menschen den Verlust ihrer Idylle beweinen und bejammern. Und wer weiß, vielleicht haben Rechtsradikale ja wirklich einmal in der Gegend ein Heim oder etwas anderes in Brand gesetzt. Freilich kommen da auch andere Delinquentengruppen in Betracht, wie ausländische Heimbewohner oder antifaschistische Klassenkämpfer. Aber das sind wohl eher die Guten?
Ich lobe, dass diesen Sommer einige selten gespielte TO’s gesendet werden (auf dem Programm stehen), so wie dieser hier. Für einen Ehrlicher-TO ist der sehr gut. (Nur ‚Waidmannsheil‘ ist von diesem Team noch besser!)