Als am Neujahrstag 2000 die Kommissare in der 444. Folge „Bittere Mandeln“ ermittelten, ahnte niemand, welche Metamorphose Deutschlands liebste Krimireihe in den kommenden Jahren durchlaufen würde. Der „Tatort“, Flaggschiff des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, navigierte durch ein Jahrzehnt des Umbruchs – zwischen Quotenjagd und künstlerischem Anspruch, zwischen Traditionsbewahrung und kühnen Experimenten.
Neue Gesichter, frischer Wind
Das neue Millennium läutete einen Generationenwechsel ein. Während altgediente Ermittler wie Ehrlicher und Kain nach 15 Jahren ihren Dienst quittierten, betraten frische Gesichter die Krimi-Bühne. Allen voran das ungleiche Duo aus Münster: Hauptkommissar Thiel und Rechtsmediziner Boerne enterten 2002 die Bildschirme und avancierten rasch zum Publikumsmagneten. Ihre Mischung aus Klamauk und Krimi traf den Nerv der Zeit.
„Der Tatort ist wie eine alte Tante, die sich immer wieder neu erfindet“, kommentiert ein ARD-Verantwortlicher augenzwinkernd.
Auch andernorts frischte man das Personal auf: Maria Furtwängler als eigenwillige Kommissarin Charlotte Lindholm in Hannover und Axel Milberg als kauziger Klaus Borowski in Kiel sorgten für neuen Schwung. Der Erfolg gab den Machern recht: Lindholms Debüt „Lastrumer Mischung“ (2002) sprengte die Quotenskala.
Spiegel der Gesellschaft
Doch der „Tatort“ wäre nicht der „Tatort“, würde er sich nur auf seichte Unterhaltung beschränken. Mehr denn je fungierten die Sonntagskrimis als Seismograph gesellschaftlicher Erschütterungen. Kindesmissbrauch („Abschaum„, 2003), illegaler Diamantenhandel („Blutdiamanten„, 2006) oder Zwangsheirat („Baum der Erlösung„, 2009) – kein Thema war zu heikel, um es nicht anzupacken.
Dass man dabei mitunter ins Fettnäpfchen trat, zeigte der Aufschrei der alevitischen Gemeinde gegen die Folge „Wem Ehre gebührt“ (2007). Der Vorwurf: Klischees und Vorurteile. Ein Drahtseilakt zwischen Aufklärung und political correctness, den die Macher nicht immer mit Bravour meisterten.
Experimentierfreude und Wagemut
Während manche Kritiker den „Tatort“ als behäbigen Tanker im Meer der Fernsehunterhaltung abtaten, bewiesen die Kreativen hinter der Kamera Mut zum Experiment. Die mehrfach preisgekrönte Folge „Im freien Fall“ (2002) brach radikal mit gewohnten Erzählstrukturen und erntete dafür viel Applaus.
Auch andernorts wagte man sich auf Neuland: „Das letzte Rennen“ (2006) integrierte die Dreharbeiten in einen echten Frankfurter Marathon, während „Der oide Depp“ (2007) mit Schwarz-Weiß-Rückblenden und Originalaufnahmen einer alten Krimiserie spielte. Der „Tatort“ bewies: Auch ein Dinosaurier kann tanzen lernen.
Zwischen Grimme-Preis und Quotendruck
Die Gratwanderung zwischen Anspruch und Quote gelang in diesem Jahrzehnt erstaunlich oft. Maria Furtwängler heimste 2007 den Deutschen Fernsehpreis ein, während Folgen wie „Herzversagen“ (2004) mit dem renommierten Grimme-Preis geadelt wurden. Gleichzeitig blieb der Sonntags-Krimi ein verlässlicher Quotenbringer – sehr zur Freude der Sender.
Als der „Tatort“ 2009 mit der 726. Folge „Das Gespenst“ das Jahrzehnt beschloss, blickte man auf turbulente Jahre zurück. Jahre, in denen die Reihe ihre DNA bewahrte und sich doch neu erfand. Der Spagat zwischen Nostalgie und Moderne, zwischen Kriminalfall und Gesellschaftsporträt – er war geglückt.
Die Weichen für die Zukunft waren gestellt. Der „Tatort“, so viel war klar, würde auch im kommenden Jahrzehnt Millionen Deutsche vor die Bildschirme locken. Sonntag für Sonntag, Mord für Mord.